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Morning BriefingLieber Grippe als Crash?

Hans-Jürgen Jakobs 24.03.2020 - 06:00 Uhr

Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,

bislang lebt die Gesellschaft in der Coronakrise vom Grundsatz, Schwache zu schützen und nicht zu stigmatisieren. Nicht einmal die schlimmsten Autokraten, befand Giovanni di Lorenzo in der „Zeit“, würden öffentlich eine bestimmte Rechnung aufmachen: „Ein paar Zehntausend Tote sind nicht so schlimm wie der drohende weltweite Einbruch der Konjunktur.“ So argumentiert der Mediziner und Finanzspezialist Alexander Dibelius im Handelsblatt-Interview auch nicht. Er sagt nur: „Lasst uns die Gefährdeten schützen, aber ich infiziere mich halt, denn besser eine Grippe als eine kaputte Wirtschaft.“ Und er fragt, ob es richtig sei, dass 10 Prozent der Bevölkerung geschont, 90 Prozent aber – mitsamt der Ökonomie – extrem behindert werden. Man könnte genauso gut fragen, ob Utilitarismus jetzt Humanismus ablöst.

Foto: dpa

Solche Erörterungen weisen auf eine Debatte, die gerade erst beginnt und die nach ein paar Wochen Shutdown so richtig aufbranden wird: dass man nicht alle, sondern nur wenige in ihrer Freizügigkeit beschränkt. Dibelius ist als Investor der Firma CVC an die Unbarmherzigkeit von Bilanzen gewöhnt. Er bedauert, dass Großbritannien und die Niederlande, anders als geplant, Senioren und Vorerkrankte nicht isolierte und das Gros der Bürger eine „Herdenimmunität“ entwickeln ließ. Die Rettungsversprechen der Politik hält er im Übrigen für „leider unseriös“ und spricht von Implosion: „Wer soll das denn auf Dauer bezahlen, wenn alle zu Hause sitzen müssen?“ Die Fragen sind berechtigt, aber die Antworten möchte man wahrscheinlich doch lieber von Olaf Scholz als von Alexander Dibelius erhalten.

Die Politik der meisten Staaten, zu denen jetzt auch Großbritannien gehört (Boris Johnson: „Bleiben Sie zu Hause“), folgt den Ratschlägen der Virologen. Doch jene Staaten, die lieber auf ihren Spitzenmann als auf Experten hören, büxen aus der Anti-Corona-Phalanx aus. US-Präsident Donald Trump will nach den Anfang April auslaufenden Restriktionen einen Kurswechsel wagen: „Wir können nicht zulassen, dass die Heilung schlimmer ist als das Problem selbst.“ Amerika werde bald „wieder offen sein für Geschäfte“. Und Brasiliens Rechtsaußen-Präsident Jair Bolsonaro hält die Aufregung über die Pandemie ohnehin für einen „Trick“ hysterischer Medien: Das ganze Coronavirus-Problem sei „eine kleine Grippe“. Da ist man wieder ganz nahe bei Dibelius‘ Medizin.

Foto: dpa

Deutschlands Politiker haben zuletzt beträchtliche Energie in der Frage entwickelt, ob Kontaktverbote, Ausgangssperren oder Ausgehbeschränkungen wohl das Richtige sind. Was dazu führt, dass ich in München nach Bund-Länder-Regel mit einem Fremden auf der Straße spazieren kann, nach Bayerns Gesetz aber nicht. An die Polizei, die über solche Feinheiten zu wachen hat, dachte man nicht. Mehrere Polizeigewerkschaften klagen, die Einsatzkräfte seien nicht ausreichend gegen Corona-Ansteckung geschützt. „Fehlende Atemschutzmasken sind für die Polizei ein Riesenproblem“, sagt uns Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamter. Deshalb könne man bei Versammlungsverboten „nur dort kontrollieren, wo die Leute wirklich über die Stränge schlagen“. Die Ausstattung sei „alles andere als ausreichend, wenn überhaupt vorhanden“, ergänzt Rainer Wendt von der Deutschen Polizeigewerkschaft. Auch ein Krisen-Ticker: Im Saarland sind mehr als 100 Polizisten und in einer Großstadt alle Beamte des Erkennungsdienstes in Quarantäne.

Staatshilfen in Krisen sind normal. Ebenso normal sind Wirtschaftsgrößen, die solche Alimentation mit großem Gestus ablehnen und dann davon profitieren, dass Kunden oder Lieferanten mit Staatsknete geschützt werden. Diese „Nein, danke“-Haltung, die Joe Ackermann von der Deutschen Bank in der Finanzkrise demonstriert hat, nimmt nun Ola Källenius ein. Daimler benötige derzeit keine Staatshilfe, sagt der CEO meinen Kollegen, „wir sind mit einer hohen Liquidität ausgestattet.“ Die stolze Dividende von 90 Cent bleibe und natürlich würden die Leute in China auch wieder Mercedes kaufen. „Oh Happy Day“, jubelten die Edwin Hawkins Singers einst zu solchen Botschaften. Nur die Schließung der meisten Werke in Europa und Nordamerika, Kurzarbeit in Deutschland sowie ein rapider Kursverlust wollen nicht so recht zum farbschönen Stillleben aus Untertürkheim passen.

An der Macht hängt Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit allen Klebstoffen der Welt. Sein Parteifreund Juli Edelstein von Likud sträubt sich so vehement gegen eine Abstimmung über seinen Posten des Parlamentspräsidenten, dass das Oberste Gericht in Jerusalem nun eine Wahl bis spätestens am morgigen Mittwoch angeordnet hat. Sonst, urteilten die Richter, „wären die Struktur demokratischen Lebens sowie die Grundlagen unseres parlamentarischen Systems beeinträchtigt“. Die knappe Mehrheit von 61 der 120 Abgeordneten verlangt im Parlament Knesset die Absetzung des Likud-Manns. Statt Netanjahu könnte dann am Ende Benny Gantz von der Partei Blau-Weiß als Ministerpräsident gewählt werden – der den Noch-Premier beschuldigt, „die Knesset zum Schweigen zu bringen“.

Foto: dpa

Und dann ist da noch Japan, das darauf pocht, die westliche Art der Namensschreibung zugunsten der früheren Form aufzugeben. Nach der Krönung des neuen Kaisers Naruhito sah das Außenministerium in Tokio im Herbst erstmals die Chance für einen Vorstoß. Beispiel Premierminister: Aus Shinzo Abe soll Abe Shinzo werden, der Familienname also an erster Stelle kommen, so wie bei Chinas Xi Jinping. Aber die ausländischen Medien haben damit genauso ihre Schwierigkeiten wie viele Japaner selbst. Offenbar muss die Regierung noch viele Diplomaten und Lobbyisten in Bewegung setzen, ehe es auch in den heimischen Zeitungen heißt: Abe Shinzo.

Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag frei von Konfusion. Wenn Sie wieder so etwas wie konzertantes Glück in der Corona-Kulturdürre empfinden wollen, schalten Sie zu Igor Levit. Der deutsch-russische Pianist streamt täglich um 19 Uhr live ein Hauskonzert und erklärt seine Stücke. Gestern war Jubilar Ludwig van Beethoven an der Reihe, ein Genie der Noten, das aufrütteln wollte: „Die Musik soll keine Tränen hervorlocken, sie soll dem Manne Feuer aus dem Geiste schlagen.“

Verwandte Themen Großbritannien Josef Ackermann Boris Johnson Deutsche Bank

Es grüßt Sie wie immer herzlich Ihr

Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor

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