Morning Briefing: Was machen all die zusätzlichen Leute im öffentlichen Dienst?

Das andere Jobwunder: Stellenboom beim öffentlichen Dienst
Liebe Leserinnen und Leser,
Deutschland erlebt derzeit ein Jobwunder der seltsamen Art. Bayer, Bosch, ZF, Henkel – kaum eine Woche vergeht, ohne dass ein deutscher Konzern einen massiven Arbeitsplatzabbau ankündigt. Gleichzeitig schnellen die Insolvenzzahlen in die Höhe. Seit 18 Quartalen ist die deutsche Volkswirtschaft praktisch nicht gewachsen.
Eigentlich müsste in einer solchen Situation die Arbeitslosigkeit steil ansteigen. Doch stattdessen steigt vor allem die Zahl der Erwerbstätigen. Im zweiten Quartal 2024 gingen in Deutschland etwa 46,1 Millionen Personen einer festen Arbeit nach. Das sind 784.000 Personen mehr als im Schlussquartal 2019, dem letzten vor der Dauerkrise.
Für Rürup gehört es „zu den Grundprinzipien einer Marktwirtschaft“, dass sich jeder Arbeitsplatz in der Privatwirtschaft rechnen muss. Aber:
„Für Beschäftigte im öffentlichen Dienst gilt dies nicht. Ihre Löhne und Gehälter werden aus staatlichen Abgaben finanziert, also Steuermitteln, Gebühren oder Beiträgen.“
Soll heißen: Wie produktiv der öffentliche Dienst und seine Beschäftigten sind, lässt sich nur schwer ermitteln.
Die Gretchenfrage: Haben Sie das Gefühl, dass die mehr als 800.000 zusätzlichen Beschäftigten den öffentlichen Dienst so richtig nach vorne gebracht haben? Also deutlich weniger Unterrichtsausfall, ein Ende des Pflegenotstands, eine Armee auf Sollstärke und ein Polizei- und Justizsystem, dass zügig und zuverlässig für Gerechtigkeit sorgt?
Ich auch nicht.
Was uns direkt zum Handelsblatt-Freitagstitel führt. Der Mainzer Historiker und konservative Vordenker Andreas Rödder konstatiert im Fall Solingen
Diese Erosion, so schreibt es unser Titelteam, vollzieht sich in vier Dimensionen: Der Staat schafft es nicht, in der inneren (Stichwort: Solingen) wie äußeren (Stichwort: Russland) Sicherheit das Vertrauen seiner Bürger zu erhalten. Der Staat versagt aber auch dabei, wirtschaftliche (Stichwort: Dauerstagnation) und soziale (Rente, Pflege, Gesundheit) Sicherheit zu garantieren.

Wie passt das zu den immer mehr Beschäftigten im öffentlichen Dienst? Vieles deutet darauf hin, dass der deutsche Staat unter einer Art Helferkomplex leidet. Er zieht immer mehr Aufgaben an sich, will überall für maximale Gerechtigkeit sorgen – und überfordert sich derart selbst, dass er am Ende sogar seine Kernaufgaben nicht mehr richtig geregelt kriegt.
Immerhin, gestern zeigte die Ampel Handlungsfähigkeit: Wenige Tage vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen haben sich SPD, Grüne und FDP vergleichsweise geräuschlos auf Maßnahmen verständigt, mit denen sie die Sicherheit im Land erhöhen wollen. Die drei wichtigsten:
Mit „Dublin-Fällen“ sind Asylbewerber gemeint, die bereits in einem anderen EU-Land Asyl beantragt haben und bei denen ein Ersuchen nach Rückübernahme erfolgreich war – so wie im Fall des mutmaßlichen Solinger Messermörders, der dann doch nicht ausreisen musste.

Der Fairness halber sei angemerkt: Es gibt da draußen in der wilden Welt der Privatwirtschaft durchaus das ein oder andere Unternehmen, gegen das die Ampel wie eine gut geölte Regierungsmaschine wirkt.
Thyssen-Krupp zum Beispiel. Der Umgang in der dortigen Konzernführung scheint direkt der Fernsehserie „Vikings“ entnommen zu sein. Nun hat der Aufsichtsratsvorsitzende von Thyssen-Krupp Steel genug vom Hauen und Stechen. Nach einer Aufsichtsratssitzung der kriselnden Stahltochter erklärte Sigmar Gabriel gestern seinen Rücktritt. Gemeinsam mit ihm gehen drei weitere Aufsichtsräte, darunter auch der stellvertretende Vorsitzende des Gremiums. Drei Vorstandsmitglieder haben ebenfalls ihre Posten niedergelegt. Zum Abschied bezichtigte der ehemalige SPD-Politiker Gabriel den Thyssen-Krupp-Vorstandschef Miguel López des „schweren Vertrauensbruchs“.
Hintergrund: Seit Wochen herrscht Streit zwischen López und dem Management der Stahltochter. Dem Chef des Mutterkonzerns sind die Sanierungspläne von Thyssen-Krupp Steel nicht ehrgeizig genug.

BSW-Gründerin Sahra Wagenknecht hat nach einem Zwischenfall bei einer Wahlkampfveranstaltung in Erfurt kurzzeitig ihren Auftritt unterbrochen. Die 55-Jährige war mit einer roten Flüssigkeit bespritzt worden, ein 50 Jahre alter Tatverdächtiger wurde festgenommen. Nach einer kurzen Unterbrechung setzte die Politikerin ihren Auftritt fort. Auf X schrieb Wagenknecht später:
Lieber spät zur Party kommen als gar nicht: Apple und der Chip-Hersteller Nvidia verhandeln laut US-Medienberichten über eine Beteiligung an der geplanten Finanzierungsrunde von OpenAI. Der Microsoft-Konzern, der bereits rund zehn Milliarden Dollar in den ChatGPT-Entwickler gesteckt hat, würde ebenfalls zusätzliches Kapital zur Verfügung stellen, schreibt das „Wall Street Journal“. Die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtet über das Interesse von Nvidia. Bei dieser Finanzierungsrunde könnte OpenAI mit mehr als 100 Milliarden Dollar bewertet werden.

Die demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris kündigte in der Nacht in ihrem ersten TV-Interview seit ihrer Nominierung an, bei einem Wahlsieg einen Republikaner in ihr Kabinett holen zu wollen. Sie sei überzeugt, dass es wichtig sei, bei den bedeutendsten Entscheidungen Leute mit am Tisch sitzen zu haben, die andere Ansichten und andere Erfahrungen hätten.
Wenn Harris wirklich andere Meinungen hören will, sollte sie nach einem Wahlsieg den Kabinettsposten am besten Donald Trump anbieten. Für den wäre das Angebot durchaus verlockend: Er könnte sich als „Designated Survivor“ zur Verfügung stellen, der im Notfall das Präsidentenamt übernimmt. Dann müsste nur noch die gesamte Führungsspitze der USA bei etwas ausgelöscht werden, das wie ein Unfall aussieht, und Trump wäre am Ziel seiner Wünsche.
Ich wünsche Ihnen einen phantasiereichen Wochenausklang.
Herzliche Grüße,
Ihr






Christian Rickens
Textchef Handelsblatt
PS: In dieser Woche haben wir Sie gefragt, welche Koalitionen Sie nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen erwarten. Eine Auswahl der Leserkommentare finden Sie hier.





