Rezession abgewendet: Deutsche Wirtschaft wächst im zweiten Quartal wieder
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KonjunkturDeutschlands Wirtschaft ist zurück auf Wachstumskurs – doch Risiken bleiben
Das Bruttoinlandsprodukt ist wieder gestiegen – wenn auch nicht so stark wie erwartet. Lieferengpässe und die Gefahr neuer Infektionswellen trüben die Stimmung.
Berlin Die deutsche Wirtschaft wächst wieder: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist im zweiten Quartal im Vergleich zur Vorperiode um 1,5 Prozent gestiegen, wie das Statische Bundesamt anhand vorläufiger Zahlen am Freitag bekanntgab. Die Summe aller Güter, Waren und Dienstleistungen war im ersten Quartal noch saison- und kalenderbereinigt um 2,1 Prozent gesunken.
Die Coronakrise hatte Deutschland einen erheblichen Rückgang der Wirtschaftsleistung beschert. Um 4,9 Prozent sank das BIP 2020 nach neuesten Berechnungen. Beschränkungen des öffentlichen Lebens, die sich bis in das zweite Quartal 2021 zogen, hatten den privaten Konsum wie auch die Auftragslage der Industrie belastet.
Mit den größtenteils seit Mai aufgehobenen Beschränkungen ist Deutschland nun aber zurück auf dem Wachstumskurs. „Dazu trugen vor allem höhere private und staatliche Konsumausgaben bei“, teilte das Statistische Bundesamt mit.
Während der Lockdowns hatten insbesondere die privaten Haushalte Einkommen gebunkert. Die Sparquote stieg auf mehr als 16 Prozent. In den 25 Jahren zuvor sparten die Haushalte im Durchschnitt nie mehr als elf Prozent ihres Einkommens. Das angesammelte Geld wird nun wieder vermehrt ausgegeben, gleichzeitig stützt der Staat mit seinem Konjunkturpaket die Wirtschaft.
Vorkrisenniveau noch nicht erreicht
Im Vergleich zum Vorkrisenniveau im vierten Quartal 2019 liegt das BIP aber noch immer um 3,4 Prozent niedriger. Die Bundesbank geht davon aus, dass sich das Wachstumstempo im Zuge der schrittweisen Öffnung der Wirtschaft im Sommer noch beschleunigt. So könnte das BIP im laufenden dritten Quartal sein Vorkrisenniveau erreichen.
Die Erholung der deutschen Wirtschaft komme nicht überraschend, erklärt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING-Deutschland: „Allerdings ist dieser Aufschwung schwächer, als es die positiven Erwartungen vermuten ließen.“
Reaktionen: Volkswirte zum deutschen Wirtschaftswachstum im Frühjahr
„Nachdem im April vielerorts noch die Bundesnotbremse griff, gingen die Infektionszahlen ab Mai rasant zurück und machten viele Öffnungen möglich, die von den Konsumenten dankend angenommen wurden. In der Industrie mangelt es dagegen an Materialien, weshalb prall gefüllte Auftragsbücher nicht abgearbeitet werden können. Auch im laufenden Quartal bleiben die hartnäckigen Angebotsengpässe eine Wachstumsbremse.
Durch die wieder deutlich steigenden Infektionszahlen in Deutschland haben sich außerdem die Aussichten für die kritischen Dienstleistungsbranchen etwas eingetrübt. Das Tempo weiterer Öffnungen wird wohl gedrosselt, mit dem konsequenten Einsatz von Impfungen, Tests und Masken dürften pauschale Schließungen von Geschäften, Hotels oder Restaurants aber mittlerweile vermeidbar sein.“
„Das ist eine kleine Enttäuschung, da die Flüsterschätzungen höher lagen. Zudem war das Auftaktquartal nach der Revision noch schlechter als gedacht.
Immerhin sieht man, dass die Wirtschaft kräftig anspringt, sobald die pandemiebedingten Einschränkungen gelockert werden. Das sollte die Messlatte für den weiteren Jahresverlauf sein. An unserer Prognose von 3,2 Prozent für das Gesamtjahr halten wir fest.“
„Die Wachstumsrate gegenüber dem Vorjahresquartal macht einen neuen Rekord seit der Wiedervereinigung. Aber das ist in Anbetracht des massiven wirtschaftlichen Einbruchs aufgrund der ersten Corona-Welle und der verhängten Eindämmungsmaßnahmen im vergangenen Jahr auch kein großes Kunststück.
Die Aufmerksamkeit gilt vielmehr der Entwicklung gegenüber dem ersten Quartal dieses Jahres. Dabei gilt: Das Wachstum fällt ordentlich aus, doch es hätte zu noch mehr gereicht, wenn nicht die Materialknappheit gewesen wäre.“
„Es ist ein zäher Weg zum Vorkrisenniveau. Das BIP hat zwar den Rückschlag von 1,8 Prozent im ersten Quartal weitgehend ausgeglichen, liegt aber nach wie vor unter dem Vorkrisenniveau im vierten Quartal 2019.
Das BIP ist wie ein Seismograf der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. So wie der Lockdown der Wintermonate in eine rezessive Entwicklung führte, hat die Öffnung von Gastronomie und Einzelhandel einem kräftigen Anstieg der Dienstleistungsnachfrage Raum gegeben. Einen positiven Beitrag hat auch das Baugewerbe geleistet. Keine positiven Beiträge konnte dagegen die Industrie leisten, die zuletzt eine wesentliche Triebkraft für Wachstum war.
Der Ausblick auf die Wirtschaft im weiteren Verlauf des Jahres ist grundsätzlich positiv. Viel wird jedoch von der politischen Reaktion auf steigende Infektionszahlen abhängen. Einschränkungen des Wirtschaftslebens würden den Ausblick erneut deutlich eintrüben. Im Jahresdurchschnitt sollte ohne weitere Lockdown-Maßnahmen ein Wachstum von vier Prozent möglich sein.“
„Die Zweiteilung der deutschen Volkswirtschaft hat sich im Vergleich zu den vergangenen Quartalen umgekehrt. Bis vor Kurzem war die Industrie der Träger der konjunkturellen Entwicklung, während die Dienstleister unter den Lockdown-Beschränkungen litten.
Nun spielt die Musik bei den Dienstleistern. Befreit von den Fesseln des Lockdowns blühte der Einzelhandel wieder auf, füllten sich die Tische in der Gastronomie, die Kinosäle und die Auftragsbücher der Reiseunternehmen.“
Noch immer ist die Materialknappheit Hauptproblem der Industrie, insbesondere fehlende Chips für die Automobilbranche. Joachim Lang, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), sagt: „Die gute Lage darf nicht über drohende Konjunkturrisiken hinwegtäuschen.“
Insbesondere knappe Zwischengüter blieben ein Problem. Brzeski von der ING befürchtet zudem, dass starke Regenfälle den Schiffsverkehr einschränken könnten.
Im laufenden dritten Quartal werde die Erholung aufgrund der Lieferengpässe schwach bleiben, erwartet auch das Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo). Vor allem im verarbeitenden Gewerbe dürfte die Produktion weiter schrumpfen.
Darauf deuten die rückläufigen Geschäftserwartungen der Unternehmen in den Ifo-Konjunkturumfragen der vergangenen Monate hin. So gaben im Juli fast zwei Drittel der Industrieunternehmen an, durch einen Mangel an Vorprodukten in ihrer Produktion behindert zu sein. Im April lag der Anteil noch bei 45 Prozent.
Gleichzeitig bleiben in Anbetracht steigender Infektionszahlen Sorgen vor weiteren Infektionswellen – nicht nur in Deutschland. Die stark vom Export abhängige deutsche Industrie wäre auch von wirtschaftlichen Einbrüchen anderer Länder betroffen.
„Es muss oberste Priorität sein, weltweit das Impftempo deutlich zu erhöhen und Hilfsmaßnahmen für Schwellen- und Entwicklungsländer auszubauen“, sagte Lang. Nur so ließen sich weitere Corona-Ausbruchsherde verhindern und stabile Wertschöpfungsketten aufrechterhalten.
Der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum hält das ebenso für das Kernproblem: „Viele für Deutschland wichtige Absatzmärkte, wie Indien oder Brasilien, leiden weiterhin erheblich unter Corona.“
Peter Altmaier erklärte: „Das Wachstum im zweiten Quartal zeigt: Die deutsche Wirtschaft hat die dritte Welle der Pandemie überwunden.“ Umso wichtiger sei es laut dem Bundeswirtschaftsminister nun, weiterhin alles dafür zu tun, dass der Neustart weiter an Kraft zulegt. „Dazu müssen wir beim Impfen noch schneller vorankommen und auch die notwendigen Unterstützungsprogramme für die Wirtschaft fortführen.“
Inflation könnte Konsum „untergraben“
Das zurückhaltende Wachstum der deutschen Wirtschaft könnte sowohl die Geld- als auch die Fiskalpolitiker in ein Dilemma führen. Denn gleichzeitig steigen die Preise. Die deutsche Inflationsrate ist im Juli so stark in die Höhe geschnellt wie seit fast 30 Jahren nicht mehr. Die Verbraucherpreise legten um 3,8 Prozent zu, wie das Statistische Bundesamt am Donnerstag mitgeteilt hatte. Im Vormonat lag die Rate des Verbraucherpreisindexes (VPI) bei 2,3 Prozent.
Das nährt die Angst vor einer stärkeren, länger anhaltenden Inflation. Sollte sich die Politik dazu entscheiden, das Wirtschaftswachstum noch mal mit Investitionspaketen antreiben zu wollen, würde das die Inflation weiter befeuern.
Unter Ökonomen herrscht Uneinigkeit, inwieweit das eine Gefahr ist. Die Frage ist, ob die steigende Inflation nur durch Sondereinflüsse wie die Normalisierung der Mehrwertsteuer getrieben wird oder die Teuerung nachhaltig ist, sodass es eines Eingriffs bedarf.
„In den nächsten Monaten dürfte Deutschland den stärksten Inflationsschub seit drei Jahrzehnten erleben“, warnt Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW).
Brezski von der ING befürchtet, dass die Konsumausgaben „durch eine höhere Inflation in der zweiten Jahreshälfte untergraben werden könnten“. Ökonom Südekum hingegen erwartet: „Noch ist der Aufschwung etwas ruckelig, aber die Lieferengpässe werden sich in den kommenden Monaten entspannen.“ Dann werde nicht nur das Wachstum zulegen, sondern auch die Inflation merklich zurückgehen.
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