Pandemie Corona-Impfstoff für alle: Priorisierung könnte laut Spahn im Juni fallen

Die Länderkammer hat über die Neuregelung des Infektionsschutzgesetzes beraten.
Berlin Nach der „Corona-Notbremse“ nimmt sich der Bund die Impfkampagne vor: Wenn am Montag die Ministerpräsidenten der Länder zusammenkommen, stehen gleich eine Reihe von Maßnahmen zur Debatte, die das Impftempo beschleunigen sollen – und gleichzeitig Geimpften und Genesenen mehr Freiheiten erlauben sollen.
Konkret steht unter anderem die Impfpriorisierung auf der Agenda. Laut Bundesgesundheitsminister Jens Spahn könnte wohl im Juni keine offiziell festgelegte Reihenfolge mehr notwendig sein. Wenn es früher sein sollte, wäre er froh, sagte der CDU-Politiker im Bundesrat am Donnerstag.
Er gehe Stand heute aber davon aus, dass die Priorisierung im Juni aufgehoben werden könne. Dann hätten alle Menschen der vierten und fünften Risikogruppe eine Erstimpfung erhalten, was ungefähr der Hälfte der Bevölkerung entspricht.
Einigen Bundesländern geht das jedoch nicht schnell genug. Sie wollen den Impfstoff von Astra-Zeneca wesentlich breiter einsetzen als bisher. Nachdem Berlin und Nordrhein-Westfalen bereits vor Wochen die Impfpriorisierung für Personen im Alter von 60 und älter aufgehoben hatten, folgten nun Bayern, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern.
Man gebe den Impfstoff von Astra-Zeneca ab sofort „für alle Altersklassen unabhängig von der Priorität“ frei, teilte der mecklenburg-vorpommerische Gesundheitsminister Harry Glawe (CDU) mit. Die Freigabe sei „ein Angebot, dass diejenigen, die keine oder wenige Vorbehalte gegen den Impfstoff haben, die Möglichkeit nutzen können, sich gegen das Coronavirus auch impfen zu lassen“. Ziel sei es, dass kein Impfstoff liegen bleibe.
Auch in Berliner Arztpraxen soll der Impfstoff von Astrazeneca ab sofort grundsätzlich für alle Altersgruppen zur Verfügung stehen. Die Praxen müssen sich dabei nicht mehr an die Priorisierung nach der Impfverordnung des Bundes halten, teilte die Senatsverwaltung für Gesundheit am Donnerstag mit. „In der aktuellen Infektionswelle kommt es darauf an, möglichst viele Menschen möglichst bald zu immunisieren - auch mit dem aufklärungsintensiven Astrazeneca-Impfstoff“, sagte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD).
Länder weichen Priorisierung auf
Sachsen hatte einen ähnlichen Weg mit Vorbehalten gegen Astra-Zeneca begründet. Wegen der hohen Mengen an erwartetem Biontech-Impfstoff gebe es Impfberechtigte, die lieber auf das Präparat des Mainzer Unternehmens warten wollten, obwohl sie bereits Anrecht auf eine Astra-Zeneca-Impfung hätten.
Spahn kündigt Aufhebung der Impfpriorisierung für Juni an
Auch das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) empfiehlt, die Impfpriorisierung aufzuheben. Bereits Anfang Mai seien ein Drittel der Bevölkerung mindestens einmal geimpft, sagte ZI-Chef Dominik Stillfried dem Handelsblatt. Mehr als die Hälfte der über 60-Jährigen würden dann mindestens eine Erstimpfung erhalten haben.
„Angesichts der pandemischen Lage zählt jetzt jede Impfung“, so Stillfried. „Daher sollte bereits ab Anfang Mai grundsätzlich jeder, der geimpft werden will, eine Erstimpfung erhalten können. “
Andere Bundesländer verweisen hingegen darauf, dass die Impfpriorisierung erst dann fallen sollte, wenn genügend Impfstoff zur Verfügung stehe. Auch der Vorstand der Stiftung Patientenschutz hält nichts von einer vorgezogenen Aufhebung der Priorisierung. „Erst wenn die Fakten auf dem Tisch liegen und genügend Impfstoff da ist, kann über eine noch weitere Öffnung der ethischen Reihenfolge gesprochen werden“, sagte Eugen Brysch dem Handelsblatt. Das Bundesgesundheitsministerium gab sich in der Frage bislang zurückhaltend.
Ringen um Ausnahmen für Geimpfte und Genesene
Am Montag wollen Bund und Länder in ihrer Konferenz auch darüber beraten, ob es für Geimpfte und Genesene Ausnahmen von den in der „Bundes-Notbremse“ festgelegten Maßnahmen geben kann - insbesondere für die Ausgangssperre. Die Frage stellt sich seit den Verhandlungen über die Corona-Maßnahmen, ihre Bedeutung wächst mit der Zahl der geimpften Menschen.
Gleichzeitig ist das Thema ist vielseitig - offen ist etwa, ob solche Ausnahmeregeln vor Gericht Bestand haben können oder sogar nötig sind, um die Beschränkungen zu legitimieren. So stützt sich die Argumentation derjenigen, die die bundesweite Ausgangssperre für verfassungswidrig halten, vor allem auf die fehlenden Ausnahmen für Immune. Offen ist allerdings auch, wann Personen in den Genuss der Regel kommen sollen - beispielsweise erst nach der Zweit- oder schon nach der Erstimpfung. Wichtig für die Entscheidung dürfte auch sein, wie sich mögliche Ausnahmeregeln auf die Akzeptanz der ohnehin umstrittenen „Bundes-Notbremse“ auswirken könnten.
Aufgrund der Unklarheiten ist nicht davon auszugehen, dass sich Bund und Länder am Montag bereits auf eine Rechtsverordnung einigen können - die ist nötig, um die in der „Bundes-Notbremse“ enthaltenen Regeln zu ändern. Zusätzlich bedarf es der Zustimmung des Bundestags und Bundesrats.
Die Länderkammer ließ am Donnerstag trotz massiver Kritik das geänderte Infektionsschutzgesetz passieren. In einer Sondersitzung verzichtete der Bundesrat darauf, den Vermittlungsausschuss zu dem Gesetz anzurufen, das der Bundestag am Vortag verabschiedet hatte. Es gab keine förmliche Abstimmung. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unterzeichnete das Gesetz anschließend, das jetzt nur noch im Bundesgesetzblatt veröffentlicht werden muss.
Kritik im Bundesrat
Im Bundesrat äußerten alle sechs Ministerpräsidenten, die sich in der Aussprache zu Wort meldeten, erheblichen Unmut. Sie sahen durch die Bank verfassungsrechtliche Bedenken - insbesondere wegen der starren Notbremse - und Probleme bei der praktischen Umsetzung. Dem Bund warfen sie zudem vor, nicht die Erfahrungen der Länder in der Pandemiebekämpfung berücksichtigt zu haben.
Bundesratspräsident Reiner Haseloff (CDU) kritisierte in scharfer Form die Kompetenzverlagerung auf den Bund. „Der heutige Tag ist für mich ein Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“, sagte der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. Die Länderkammer berate über ein Gesetz, „dessen Entstehung, Ausgestaltung und Ergebnis unbefriedigend sind“. Der saarländische Regierungschef Tobias Hans (CDU) betonte: „Ob diese Kompetenzverlagerung auf die Bundesebene eine wirkungsvollere Art der Pandemiebekämpfung darstellt, dieser Beweis, der ist noch nicht erbracht. Und der muss erbracht werden.“
Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier bezeichnete die starren Ausgangsbeschränkungen als „verfassungsrechtlich problematisch“. Es stelle sich auch die Frage, wie zum Beispiel die vorgesehenen Schulschließungen umgesetzt werden sollten. Bouffier bedauerte es, „dass der Bundestag die Chance hat verstreichen lassen, viele Erfahrungen der Länder, die wir aus einem Jahr praktischem Krisenmanagement gesammelt haben, mehr und intensiver aufzunehmen“. Das hätte die Akzeptanz in der Bevölkerung deutlich erhöhen können.
Gezogen werden soll die Notbremse, wenn in einem Landkreis oder einer Stadt die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen an drei Tagen hintereinander über 100 liegt. Dann dürfen Menschen ab 22.00 Uhr die eigene Wohnung in der Regel nicht mehr verlassen. Alleine Spazierengehen und joggen ist bis Mitternacht erlaubt. Es darf sich höchstens noch ein Haushalt mit einer weiteren Person treffen, wobei Kinder bis 14 Jahre ausgenommen sind. Läden dürfen nur noch für Kunden öffnen, die einen negativen Corona-Test vorlegen und einen Termin gebucht haben. Präsenzunterricht an Schulen soll ab einer Inzidenz von 165 meist gestoppt werden.
Mit Agenturmaterial.
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