Lieferengpässe Produktionsverlagerung nach Europa: Fünf Schritte am Beispiel des Kinderfahrradherstellers Woom

Es sollte nicht darum gehen, einfach kleine Erwachsenenräder zu produzieren.
Düsseldorf Guido Dohm denkt und handelt schnell. Christian Bezdeka und Marcus Ihlenfeld, die beiden Gründer des Kinderfahrradherstellers Woom aus dem österreichischen Klosterneuburg, mussten den 55-Jährigen nicht lange überzeugen, um als Geschäftsführer bei ihrer Firma anzuheuern. Dohm ist erst seit dem vergangenen Sommer bei Woom – und verlagert bereits große Teile der Produktion nach Polen.
Der Manager hat fast sein ganzes Berufsleben in der Bekleidungsindustrie gearbeitet, zuletzt beim Outdoorhersteller Jack Wolfskin. Er kennt die Karawane der Produktionsverlagerungen gen Osten von Anfang an: Zunächst produzierte die Branche in Osteuropa, dann ging es nach Asien – an immer günstigere Standorte. „Dieser Hintergrund hat mich geprägt“, sagt Dohm. „Ich habe mich gefragt, ob das nicht ein Wahnsinn ist, ob man nicht umdenken muss.“
Nun kann er für den 2013 gegründeten Kinderfahrradhersteller – zumindest zu einem Teil – die Rolle rückwärts verkünden: „Wir machen es wirklich, wir produzieren in Europa.“ Für Woom überwiegen die Vorteile, und auch andere Unternehmen können etwas davon lernen:
1. Auf Megatrends setzen
Bei Woom kommen gleich mehrere Faktoren zusammen. Erstens ein enormes Wachstum: Der Jahresumsatz übersteigt inzwischen 50 Millionen Euro, 2020 stieg der Absatz um 63 Prozent. Die Nachfrage in Europa, Asien und Nordamerika ist noch lange nicht befriedigt. „Wir rechnen in den kommenden vier Jahren jeweils mit einem Wachstum von 50 Prozent pro Jahr“, sagt Dohm.
40 Prozent der Produktion sollen künftig in Polen angesiedelt sein, der Rest soll in Asien bleiben. Bei entsprechender Nachfrage sei auch eine Produktion in Mexiko für den nordamerikanischen Markt denkbar. Aktuell liege der Marktanteil bei Kinderfahrrädern im Heimatmarkt Österreich bereits bei 44 Prozent, hierzulande sind es noch unter zehn Prozent.
Die Hauptzielgruppe sind gut situierte Eltern, die bereit sind, hohe Preise für Kinderfahrräder zu zahlen. Und diese hatten auch in der Pandemie weniger finanzielle Einbußen als andere Gruppen. Eher sind sie mit ihren Kindern noch mehr Rad gefahren als zuvor, was Woom zugutekommt. Oft werden die Räder dann irgendwann im Freundeskreis weiterverkauft. Der Boom bei Woom fußt auf mehreren Megatrends: Gesundheit, Klimaschutz, Freizeit sowie Mobilität im urbanen Umfeld.
2. Wagniskapital vor Bankenfinanzierung
Auf den ersten Blick ist das Geschäftsmodell von Woom gewagt. Die Räder sind sehr teuer: Das kleinste kostet knapp 180 Euro, das E-Bike rund 3000 Euro. Doch die Eltern kaufen die Räder – vor allem, weil diese so leicht seien, so ergonomisch, eben keine kleinen Erwachsenenräder, wie Dohm sagt. Die etablierten Hersteller bieten inzwischen ähnliche Räder an, die Konkurrenz wächst also.
Die Woom-Gründer verkauften im vergangenen Jahr Anteile ihrer Firma an Finanzinvestoren. Doch das Geld wird nicht nur für weitere Wachstumspläne gebraucht, sondern auch für die Produktion in Europa.
Das Family Office Bregal der Familie Brenninkmeijer sicherte sich Anteile, genauso der Runtastic-Gründer Florian Gschwandtner, der Unternehmer Stefan Kalteis sowie die deutschen Investoren Alexander Kudlich, Ludwig Ensthaler und Florian Leibert. Die Gründer halten noch 67 Prozent.
„Ich glaube auch nicht, dass Banken die Verlagerung nach Polen genauso gern bezahlt hätten“, sagt Dohm. „Ich habe schon viel Erfahrung mit Finanzinvestoren hinter mir. Bei Woom sind alle vier Investoren echte Unternehmer, die genau verstehen, was es braucht.“
3. Lieferfähigkeit vor Kostendenken
„In der Bike-Industrie beziehen sämtliche Hersteller ihre Teile aus Asien“, erklärt Dohm. Und so behindern derzeit Lieferengpässe viele Hersteller in der Fahrrad- und Outdoorindustrie. Es profitieren diejenigen, die in Europa fertigen.
Experten wie Martin Geis sehen in dem Beispiel von Woom „absolut keinen Einzelfall“. Der Direktor der Unternehmensberatung TMG Consultants, die sich auf Beratung in Produktionsprozessen spezialisiert hat, sieht bei einigen Unternehmen „die klare Bestrebung, ihre Produktionen sowie ihre Zulieferer wieder näher an die Absatzmärkte und insbesondere nach Europa zu bringen“.
Das letzte Jahr habe gezeigt, wie stark die globale Vernetzung inzwischen sei und „wie schnell die Lieferketten aus dem Gleichgewicht geraten und einzelne Störungen über die einzelnen Wertschöpfungsstufen bis zum Verbraucher durchschlagen“.

Der Kinderfahrradhersteller hat Teile seiner Produktion nach Europa verlagert.
Die dadurch entstehenden Produktionsstillstände, Lieferausfälle und Umsatzverluste bei den Unternehmen schmerzten sehr, stellt Geis fest: „Wer lieferfähig ist, macht das Geschäft.“ Dies bewege einige Unternehmen zum Umdenken – „weg von der möglichst kostengünstigen Beschaffung hin zur Sicherstellung der Lieferfähigkeit in den einzelnen Märkten. Und dies bedeutet am Ende eine Neuausrichtung der Wertschöpfungsketten und Reallokation der Produktionen.“
4. Totschlagargumente entkräften
Auf den ersten Blick erscheint vielen Unternehmen eine Verlagerung der Produktion nach Europa mit unüberwindbaren Hürden verbunden. Das war bei Woom nicht anders. Da war Dohm als Ingenieur gefragt: „Was muss erfüllt sein, damit in Europa Produktion möglich ist?“, lautete die Grundfrage. Dohm wollte dabei keine Totschlagargumente hören: „Wir haben uns die Start-up-Mentalität nicht abgewöhnt, auch wenn das Unternehmen in Österreich ein Großunternehmen ist.“
Ein Schweißer benötige acht Monate, bis er einen Rahmen absolut fehlerfrei schweißen könne. „Solche Fachkräfte finden Sie nicht mehr in Europa“, sagt Dohm. Doch er dachte sich: Wenn mehrere Roboter die Karosserie eines Autos zusammenschweißen könnten, dann müsse das doch auch bei einem Rahmen für ein Kinderfahrrad gehen. Das Ergebnis: Es geht tatsächlich. Ein Teil der Produktion könnte also automatisiert werden, egal ob in Asien oder in Polen.
Doch bislang gab es da eine weitere hohe Hürde: Die Zulieferer der Autoindustrie, die viel Erfahrung mit Automatisierung haben, brauchten kleinere Kunden aus der Fahrradindustrie nicht. Das hat sich geändert, wie das Beispiel Woom zeigt: „Wir unterhalten uns mit Zulieferern aus der Automobil- und Luftfahrtindustrie. Die hätten sich mit uns vor ein, zwei Jahren noch nicht an einen Tisch gesetzt“, sagt Dohm.
5. Kooperationen nutzen
Dass ein Unternehmen wie Woom mit 100 Mitarbeitern solche Wege nicht so schnell und nicht allein beschreiten kann, ist klar. Schließlich dauert es Jahre, eine Produktion aufzubauen. Doch Woom hat in Ostwestfalen einen Partner gefunden – den in Gütersloh ansässigen, fast 100 Jahre alten Fahrradhersteller Sprick Cycle, der bereits seit 30 Jahren in Polen fertigt.
Sprick Cycle war bereit, gemeinsam mit Woom zwei Produktionsstraßen zu entwickeln und die Automatisierung gleich mitzudenken. In Asien werde die Automatisierung dagegen nicht so schnell kommen, erklärt Dohm. Dort „lassen sich noch nicht entsprechende Fachleute in ausreichender Zahl finden oder ausbilden“.
Die Probleme stecken manchmal in den Details, so auch die Erfahrung bei Woom: Für den Kinderfahrradhersteller war dies die typische zweifarbige Lackierung, verbunden mit der Frage, wie sie sich verfahrenstechnisch umsetzen lässt.
Mehrere Monate hat Dohm mit seinen Kollegen getüftelt und sich auch Prozesse in anderen Industrien angeschaut. „Schlussendlich haben wir uns etwas bei der Lackierung von Buntstiften abgeschaut, das sich auf unsere Aufgabenstellung gut übertragen ließ.“
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