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60. Kunstbiennale VenedigErzählungen aus der Fremde

Das Motto der zentralen Kunstausstellung in Venedig lautet „Fremd überall“. Der brasilianische Kurator Adriano Pedrosa lässt die Werke von über 300 Künstlerinnen und Künstlern aus dem globalen Süden sprechen.Susanne Schreiber 17.04.2024 - 08:10 Uhr
In grellen, ornamentalen Zeichen erzählt die indigene Künstlergruppe Mahku von der Überquerung der Beringstraße und von Krokodilen, die sich als scheinheilige Transporteure anbieten. Foto: Matteo de Mayda

Venedig. Es geht bunt zu auf der 60. Kunstbiennale von Venedig – und ganz anders als sonst. Das macht schon das Portal des Zentralen Pavillons in den Giardini deutlich. Kämpferische indigene, auf die Säulen gemalte Männer- und Frauengestalten nehmen die Besucher in Empfang.

Grell, zeichenhaft und ornamental erzählt die indigene Künstlergruppe Mahku aus Brasilien von der Überquerung der Beringstraße und der Gefahr für die Menschen durch Krokodile, die sich als scheinheilige Transporteure anbieten. „So kam die Trennung in verschiedene Länder und Völker zustande“, erläutert der dickleibige Katalog den optisch einprägsamen Aufschlag.

Denn das Motto der Kunstschau lautet „Fremd überall“. Es ist ein in viele Sprachen übersetztes Wort-Kunstwerk von Claire Fontaine. Von dem in Palermo lebenden Künstlerpaar hat es Adriano Pedrosa geliehen und mehrfach als Leuchtschrift in seiner Schau platziert. Der Brasilianer ist der erste Biennale-Kurator aus Lateinamerika.

Er habe sich in Europa und den USA als Fremder aus einem sogenannten Drittweltland gefühlt, als queerer Mann sowieso, erzählt er freimütig vor Journalisten. Er ersetzt den in Venedig bislang meist vorherrschenden eurozentrischen, westlichen Blick durch den auf den globalen Süden. „Diese 310 Künstlerinnen und Künstler sichtbar zu machen ist meine Strategie“, sagt Pedrosa bei einer Einführung für die Medien.

Fremd seien die Künstler der First Nations auch im eigenen Land geblieben; fremd blieben lange und zum Teil immer noch die Autodidakten der Outsider Art. Anders, eigenwillig und nicht ins Schema der Heteronormativität passen Kunstschaffende der LGBTQI-Bewegung.

Und so gelingt es Adriano Pedrosa im Zentralen Pavillon und in den lang gestreckten ehemaligen Seilereien im Arsenale zu verblüffen, neue Namen in den Kunstbetrieb einzuführen und den ästhetischen Rahmen zu erweitern.

Denn klar wird: Was bisweilen aus westlicher Sicht als naive Bildsprache angesehen wird, ist angefüllt mit uraltem schamanischen Wissen der First Nations, mit Kenntnis der waldigen Natur und der Verbindung zu den Ahnen. Und zugleich ist jedes dieser Bilder ein Zeugnis einer vom Westen gern verdrängten Kolonisierung, von Mord, Folter, Entrechtung und Ausbeutung.

Kleine gestickte Rechtecke auf eingefärbten Seidenstoffen stehen für zugefügte Wunden. Schöpferin der Installation ist die Palästinenserin Dana Awartani. Foto: Marco Zorzanello

Manchmal kommt die Menschenverachtung der Kolonisatoren sehr direkt zum Ausdruck. Etwa in den großformatigen Bildern von Santiago Yahuarcani, in denen der peruanische Autodidakt schildert, wie seine Vorfahren beim „Putumayo“-Genozid lebendig verbrannt wurden. Manchmal kommt sie gleichsam elegant daher. Die Palästinenserin Dana Awartani färbt wunderschöne Seidenstoffe in Ocker- und Rottöne. Darauf stickte sie kleine Rechtecke, die für die zugefügten Wunden stehen in „Come, let me heal your wounds. Let me mend your broken bones, as we stand here mourning“. 

Manchmal wird ein Künstler zum Archivar, der gegen das Vergessen kämpft. Pablo Delano hat das „Museum of the Old Colony“ eingerichtet. Mit Fotos, Texten und Filmen führt er vor Augen, dass an Puerto-Ricanerinnen die damals noch viel zu hoch dosierte Antibabypille getestet wurde. Und dass die Insel gleichzeitig zur Tourismusdestination für reiche Amerikaner werden wollte. FOTO

Weg von kolonialer physischer Gewaltherrschaft führen zwei eingeschobene Kapitel, die beide zeigen, dass die Moderne nicht nur in Europa stattfand. Adriano Pedrosa: „Der Modernismus reiste und wurde in Asien, Afrika und Lateinamerika transformiert.“ 

Im Zentralen Pavillon trifft die türkische Künstlerin Nil Yalter auf geistesverwandte Künstlerinnen und Künstler. Sie wird am 20. April mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Foto: Matteo de Mayda

Im Zentralen Pavillon ist ihm eine grandiose Zusammenstellung geglückt: Die bei uns seit Kurzem bekannteren Künstlerinnen Carmen Herrera und Nil Yalter treffen auf Fahrelnissa Zeid, Eudardo Terrazas und Mohamed Hamidi.

Und im Arsenale stellt er Porträts des 20. Jahrhunderts von 100 Künstlern zusammen. Dicht an dicht feiern Frida Kahlo, Hendra Gunawan, Irma Stern, Wifredo Lam und Georgette Chen das packende, weil höchst diverse Menschenbild. FOTO

Queeren Künstlerinnen und Künstlern ist eine eigene Sektion im Zentralen Pavillon gewidmet: „Aber sie sind auch überall dabei“, sagt Pedrosa schmunzelnd. Während bei Bhupen Khakhar ein bis auf ein Hemd nackter Mann einem Fischer diskret die Hand unters Hemd schiebt, sind Nedda Guidis pastelltonige Keramikskulpturen abstrakt und künden nicht direkt vom feministischen Anliegen der Künstlerin.

Im Arsenale steht eine – echte – Doppeltüre von Lydia Ourahmane als Skulptur im Raum. Die christlich aufgewachsene Algerierin reflektiert die französische Besatzung ihrer Heimat mit einer Holztüre nach Pariser Vorbild: „Denn Algerien sollte aussehen wie Frankreich.“ Davor montierten die Bewohner eine Metalltüre mit nicht weniger als fünf Schlössern. Das war im Bürgerkrieg ab den 1990er-Jahren notwendig, um sicher zu sein vor unliebsamen Eindringlingen.

In einer Zeit dramatischer Kriege, deren drohender Ausweitung zum Flächenbrand und der Klimakrise wird man Pedrosas Beitrag zur Biennale-Geschichte in Erinnerung behalten.

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Kunstbiennale von Venedig: Für das Publikum vom 20. April bis 24. November 2024 geöffnet. Der enzyklopädisch angelegte, zweibändige, gut geschriebene Katalog kostet 90 Euro, der Kurzführer 20 Euro. Die zentrale Ausstellung „Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere“ läuft in den Giardini und im Arsenale.

Mehr: Gipfeltreffen: Mit Kultur gegen die Dauerkrise

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