Biografie über Adam Smith: Ökonomie ohne Bart

Und jetzt noch mal mit Gefühl.
Düsseldorf. Es ist wie in diesen Familien, in denen der Erstgeborene fast immer recht hat. Und der kleine Bruder ein ungestümer Draufgänger ist, dem vieles misslingt. Oft genug verzeihen die Eltern dem kleinen Taugenichts alles. Und der brave große Bruder steht daneben und fragt sich: Was läuft hier schief?
So ähnlich ist es in diesen Tagen, in denen wir den 150. Geburtstag von Karl Marx’ Hauptwerk „Das Kapital“ begehen. Marx’ Thesen haben sich in vieler Weise als falsch erwiesen. Und doch fasziniert sein Werk Millionen Menschen bis heute. Politiker und Publizisten suchen mit zärtlicher Akribie nach den Nuggets der Wahrheit im Geröll des Marx’schen Irrtums – so auch das Handelsblatt in seiner heutigen Titelgeschichte.
Würde ein anderer großer politischer Ökonom noch leben, er stünde wahrscheinlich kopfschüttelnd neben diesen Versuchen, Marx zu reanimieren. Oder vielleicht auch milde lächelnd, weil das viel eher seinem Naturell entsprochen hätte. So wie Marx in unzähligen Belangen irrte, so hat der Erstgeborene Adam Smith in den allermeisten Punkten recht behalten. Die Lehren des schottischen Moralphilosophen haben weiten Teilen der Welt zu nie da gewesenem Wohlstand verholfen. Elend herrscht vor allem dort, wo Politiker und Unternehmer nicht an die Kraft von Freiheit und fairem Wettbewerb glauben.
Doch König der Herzen ist Smith nie geworden. Bis heute gilt er als kalter Propagandist des Egoismus. Und je mehr wir das Gefühl haben, dass etwas nicht stimmt im modernen Kapitalismus, desto tiefer sinkt der Stern des Adam Smith.
Zu Unrecht, wie der österreichische Philosoph Gerhard Streminger in seiner erweiterten und neu aufgelegten Biografie „Adam Smith: Wohlstand und Moral“ aufzeigt. Smith war keineswegs der Propagandist des Homo oeconomicus, des rationalen und stets auf Eigennutz bedachten Menschen. Tatsächlich ist das Menschenbild, das Smith vor 200 Jahren entwickelte, sehr nah dran an den Erkenntnissen der heutigen Verhaltensökonomie. Der Mensch ist bei Smith ein Wesen, das unablässig schwankt zwischen egoistischen Trieben und der Fähigkeit, sie mit der Macht seines Verstandes zu kontrollieren. Zwischen Eigennutz und Empathie.
„Adam Smith, Behavioral Economist“ haben bereits 2005 die drei Wissenschaftler Nava Ashraf, Colin Camerer und George Loewenstein einen Aufsatz in der Fachzeitschrift „Journal of Economic Perspectives“ überschrieben. Und tatsächlich wirkt Smith mit seinem Menschenbild moderner, weil mehrdimensionaler, als die meisten Ökonomen, die ihm folgten. Inklusive Karl Marx, der den Menschen monokausal als Produkt seiner Lebensumstände sah.
Handelsschiffe voll Wohlstand
Sicher, auch Smith wurde stark durch das Milieu geprägt, in dem er aufwuchs. Er kam 1723 als Sohn eines Zollbeamten zur Welt, der noch vor Adams Geburt starb. Schottland erlebte in diesen Jahren eine wirtschaftliche wie geistige Blütezeit, die Streminger in seinem Buch gekonnt zum Leben erweckt. Dabei hilft ihm, dass er bereits eine Biografie von David Hume vorgelegt hat, dem anderen großen schottischen Philosophen. Mit ihm verband Smith zeitlebens eine enge Freundschaft. Jeden Tag konnte der junge Smith beobachten, wie in seinem Heimatort Kirkcaldy die Handelsschiffe „beladen mit Nahrungsmitteln, Flachs oder Erzen“ den Wohlstand ins Land brachten. Gleichzeitig gab es nahe Kirkcaldy Kohlegruben, deren Arbeiter damals noch Leibeigene waren. Adam Smith wuchs am richtigen Ort auf, um den Wert von Freiheit schätzen zu lernen.
Zumal auch das schottische Schul- und Universitätssystem für die damalige Zeit sehr liberal war. Kinder aller Schichten wurden gemeinsam unterrichtet. Mit 14 ging Smith an die Universität Glasgow, wo Studenten sogar an der Wahl des Rektors teilnehmen durften. Wie frei es in Schottland zuging, merkte Smith erst, als er 1740 ins englische Oxford wechselte. Während in ganz Europa die Aufklärung blühte, so Streminger, „beschränkten sich Oxfords Denker in ihrer Erklärung der Welt weiterhin fast ausschließlich auf die Lektüre aristotelischer Schriften und deren Kommentierungen“. Unter Englands Talaren herrschte der Muff von 2.500 Jahren. Was Smith in späteren Jahren zu der Erkenntnis führte, „dass auch im Bildungsbereich Wettbewerb und Eigeninitiative vonnöten seien“.

Nach frustrierenden Jahren in Oxford stellte sich Smith diesem Wettbewerb, indem er 1748 nach Edinburgh zog und dort Vorträge über Literatur und Jurisprudenz hielt. Sie waren so erfolgreich, dass Smith vom Eintrittsgeld leben konnte – und verschafften ihm das nötige Renommee, damit ihn die Universität Glasgow 1751 auf den Lehrstuhl für Logik berief. Hier entstand Smiths erstes Hauptwerk, „Die Theorie der ethischen Gefühle“. In diesem Buch entwickelt Smith sein differenziertes Menschenbild, das in vieler Hinsicht erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch die experimentelle Wirtschaftsforschung empirisch bestätigt wurde. Etwa die Tatsache, dass geistig gesunde Menschen zur systematischen Überschätzung der eigenen Fähigkeiten in Relation zum Rest der Bevölkerung neigen – Depressive aber nicht. Weit entfernt davon, den Egoismus zu verherrlichen, entwickelt Smith ein Konzept, wie Menschen lernen können, ihre charakterlichen Schwächen zu kontrollieren: indem sie sich in die Rolle eines unparteiischen Beobachters versetzen und sich fragen, ob dieser das eigene Handeln gutheißen würde.
Allerdings finden sich in dem Werk auch Passagen, die aus heutiger Sicht irritieren. So etwa die Nonchalance, mit der Smith über die enormen Unterschiede zwischen Arm und Reich hinweggeht: Wohlstand schafft laut Smith ab einem bestimmten Level keine zusätzliche Zufriedenheit mehr (auch das eine Erkenntnis, die die moderne Glücksforschung bestätigt), zusätzliches Geld würde dann nur noch für nutzlosen Tand ausgegeben, und so gelte: „Der Bettler, der sich neben der Landstraße sonnt, besitzt jene Sicherheit und Sorglosigkeit, für die Könige kämpfen.“
Nun, dazu hätte man gerne die Meinung des Bettlers gehört.
Zumal Smith selbst zwar ein bisweilen hitzköpfiger Freigeist war, aber keineswegs ein Nihilist. 1764 gibt er seinen Lehrstuhl auf und begleitet stattdessen einen jungen Adeligen auf seiner Grand Tour durch Frankreich. Von dessen Vater erhielt er ein Jahresgehalt von 500 Pfund, etwa doppelt so viel wie als Professor. Schon damals verabschiedeten sich kluge Köpfe vom Universitätsdienst, weil es im Privatsektor mehr zu verdienen gab. In Paris wurde der mittlerweile recht berühmte Philosoph zum amourösen Jagdobjekt gleich zweier Damen der französischen Gesellschaft. Ansonsten war Smiths Liebesleben von einer gewissen Dürre geprägt. In jungen Jahren hatte er um die Hand einer jungen Schottin angehalten – vergeblich. Und so blieb Smith, in dessen Charakter sich Güte mit Sturheit und Menschenfreundlichkeit mit Zerstreutheit paarten, zeitlebens unverheiratet und kinderlos. Als unglücklichen Menschen müssen wir ihn uns deshalb nicht vorstellen. Ihm gefiel seine Zeit als Professor in Glasgow, er verstand sich prächtig mit seinem Schützling in Frankreich. Und er genoss es, sich nach seiner Rückkehr in seine Geburtsstadt Kirkcaldy zurückzuziehen. Dort, in einem Haus direkt am Strand, arbeitete Smith sechs Jahre lang an jenem Buch, das ihn zum Urvater der Nationalökonomie machte. Darin beschreibt er detailliert, wie Arbeitsteilung, Marktwirtschaft und Freihandel zu ebenjenem „Wohlstand der Nationen“ führen, der dem Werk seinen Namen gab.
Posthum missbraucht
Es finden sich darin auch viele Passagen, in denen Smith jene Regeln beschreibt, durch die funktionierende Märkte erst möglich werden. Etwa ein Bildungswesen, das allen Bevölkerungsschichten offensteht. Aber auch staatliche Arbeitsschutzvorschriften und die Koalitionsfreiheit von Arbeitern, damit sie sich gemeinsam Lohndumping widersetzen können. Aus heutiger Sicht mag Smiths Staatsverständnis minimalistisch klingen. Damals ging es vor allem um einen Staat, der nicht mehr einseitig den Interessen der Aristokratie dienen sollte.
Entscheidend ist aber: Nur in der Zusammenschau mit Smiths erstem Werk lässt sich die Botschaft vom „Wohlstand der Nationen“ verstehen. Eine freie Wirtschaft vermag am besten, den Reichtum einer Gesellschaft zu mehren. Doch erst wenn die Menschen lernen, ihre eigennützigen Affekte wie Gier oder Selbstsucht zu kontrollieren, wird daraus auch eine glückliche Gesellschaft.
Wie konnte Smith so missverstanden werden?


„Ich glaube, George Stigler ist einer der Hauptverantwortlichen“, sagt Jean-Robert Tyran, Direktor des Vienna Center for Experimental Economics. Der 1991 verstorbene Wirtschafts-Nobelpreisträger Stigler gilt als Mitbegründer der Neuen Politischen Ökonomie. Sie überträgt die Annahme des rational und eigennützig entscheidenden Menschen vom Wirtschaftsleben auf Politik und Gesellschaft. Stigler, so das Urteil von Tyran, habe Smith „gewissermaßen durch seine Brille gelesen und seine Sicht so prominent vertreten, dass viele andere in der Profession – und in den Lehrbüchern – sie übernommen haben“.
Smiths Lehren sind posthum missbraucht worden, um den ideologischen Unterbau für eine menschenfeindliche Ideologie zu liefern. Zumindest diesen Teil seines Schicksals teilt er mit Marx.









