Interview: Museumsdirektor Johan Holten: „Es geht um den Wandel zwischen Gesellschaft und Natur“

Der47-jährige Däne ist seit 2019 Direktor der Kunsthalle Mannheim.
Mannheim. Diese Ausstellung ist dem Direktor sehr wichtig. Das merkt die Besucherin der Kunsthalle Mannheim allein daran, dass der Katalog deutlich vor der Eröffnung vorliegt und fast alle Räume eingerichtet sind. Wenn es um die Erderwärmung, das Ende fossiler Energie und Kunst geht, redet der Däne Johan Holten leidenschaftlich und schnell.
Herr Holten, mit Ausstellungen wie „Gutes, böses Geld“, „Der gute, schlechte und der teure Geschmack“ und jüngst „Mutter“ zeigen Sie, dass Sie ein politisch wacher Zeitgenosse sind. Was vermag Kunst im gesellschaftspolitischen Dialog zu leisten?
Johan Holten: Alle Kunst hat die Verbindung zur Gesellschaft. Selbst bei den abstrakten Bildern der 1950er-Jahre gibt es sie. Da muss ich vielleicht etwas suchen, um zu erkennen, dass der Verzicht auf Gegenständlichkeit die Abkehr von der nationalsozialistischen Figuration war. Der Beweis der Gesellschaftsrelevanz muss gar nicht angetreten werden. Für mich ist es eher eine Frage der Abstufung in der Deutlichkeit.
Ihre aktuelle Ausstellung „1,5 Grad“ packt mit der Klimadebatte dann auch ein hochpolitisches Thema an.
Genau in die aktuelle Diskussion wollen wir hinein. Natürlich, weil die globale Klimaerwärmung uns alle die nächsten Jahrzehnte beschäftigen wird. Aber auch weil die Bundesgartenschau dieses Jahr in Mannheim stattfindet und sich vor allem der Nachhaltigkeit und dem Klimawandel widmet.
Was kann Kunst in einem Nachhaltigkeitsdiskurs leisten?
Sie fragt: Wie gehen wir mit natürlichen Ressourcen um? Mit anderen Lebewesen? Wie reflektieren wir unseren Verbrauch von Ressourcen? Das grundlegende Mensch-Natur-Verhältnis ist tief eingeschrieben in die Kunst seit der Romantik. Es geht uns aber um mehr als nur die fossilen Brennstoffe und den titelgebenden Temperaturanstieg. Es geht um den Wandel zwischen Gesellschaft und Natur. Deshalb begegnet man in der Ausstellung einer Video-Installation von Julien Charrière über Kohle, aber auch einer Extra-Ausstellung über Insekten oder denkt nach über unser Verhältnis zu den Sternen, unserer am weitesten entfernten Natur.
Welche Wirkung soll die „1,5 Grad“-Ausstellung haben?
Man zielt auf eine Wirkung und doch kann man sie nicht planen. Erst im Nachhinein wird absehbar, welche Wirkungen eine Ausstellung in der Geschichte hatte. Aber klar ist, Nachhaltigkeit ist kein Nischenthema mehr, sie steckt heute in so gut wie jeder Debatte drin.

Mit der Kunstfigur „Uyra Sodoma“ schafft der Brasilianer ein Wesen aus Mann, Frau und Natur.
L‘ art pour l‘ art sieht man kaum in Ihrer Ausstellungsliste. Woher kommt Ihr großes Interesse an gesellschaftspolitischen Fragestellungen? Aus dem Elternhaus?
Nicht unbedingt. Mein Großvater war, meine Eltern sind Volkswirte …
… Ihre Mutter Bodil Nyboe Andersen war dänische Notenbankchefin.
Richtig. L“ art pour l“ art ist eine Fiktion für mich. Selbst der feinste Malereidiskurs lebt von Weltbeobachtung. In jeder Beobachtung schwingt ein Interesse an Gesellschaft mit. Etwa weil Künstler neue Welten erfinden, Utopien formulieren.
>>Lesen Sie hier: Museen im Krisenmodus
Fühlen Sie noch die große Freiheit, als Direktor Themen zu setzen? Oder bestimmen die Verpflichtung zu Diversität und Klima-Schonung Ihre Agenda? Die Beauftragte für Kultur und Medien knüpft Förderung inzwischen daran.
Wie groß war die Freiheit früher? Ein guter Direktor ist immer der Gesellschaft verpflichtet. Mit Steuergeldern mache ich ja nicht, was mir privat gefällt. Ich frage mich, welches sind die Debatten, auf die ich reagieren will und muss? Eine größere Diversität unter Künstlerinnen und Künstlern pflege ich übrigens schon seit zehn Jahren. Mir gefällt nicht, immer in denselben Blasen herumzulaufen, nur in Berlin, auf der Biennale von Venedig und der Art Basel zu schauen. Das kommt nicht gut.
Wie lautet die These der Schau?
Ich bin Kurator. Heute kenne ich nicht die Lösung gegen die Klimaerwärmung und Artensterben, deshalb habe ich Demut dem Thema gegenüber. Unsere Ausstellung bildet beide Seiten der Debatte ab. Leider habe ich keinen Künstler gefunden, der die Atomkraft lobt.

Die BUGA 23 ist Partner der Ausstellung „1,5 Grad“ . In diesem Rahmen entstand auf dem Spinelli-Gelände diese begehbare Installation aus ummanteltem Stroh.
Welche Künstler sehen in der Klimakrise eine Herausforderung?
Das Künstlerkollektiv Superflex etwa operiert an der Schnittstelle zwischen engagierter Kunst, Entwicklungszusammenarbeit und Umweltschutz. „Supergas“ ist eine transportable Biogasanlage, die das fehlende Feuerholz durch Fäkalien ersetzt. Kunst ist hier ein Werkzeug, das durch seine Anwendung im Globalen Süden Relevanz erlangt.
Welche Arbeiten warnen vor dem Raubbau an der Natur?
Der Brasilianer Emerson Pontes ist Biologe und Künstler. Er hat sich ein Alter Ego erschaffen, das Uyra Sodoma heißt, ein Hybrid aus Mann, Frau und Pflanze. Mit Fotos macht er auf die Zerstörung von Regenwald in Amazonas-Gebieten aufmerksam, die von Indigenen bewohnt werden. Aktivismus und kollektives Häkeln verknüpft auch das Korallenriff von Margaret und Christine Wertheim.
Zwei Arbeiten wurden aus der Ausstellung heraus angekauft. Warum?
Marianna Simnett folgt einem transhumanistischen Ansatz. In einem Gestüt für Rennpferde dokumentierte sie, wie sich eine Stute erfolgreich wehrt, gedeckt zu werden. Die Gewalt der Züchter, die Verzweiflung der Stute und der Schmerz des an den Genitalien verletzten Hengstes gehen mir zu Herzen.
Wie schafft Marianna Simnett das?
Sie baut acht Großfotos mit einer Kipptechnik, der Lentikularfotografie, in ein ovales Panorama. Der Betrachter geht hinein und reflektiert so das Geschäftsmodell Rennpferdezucht und den Akt des Betrachtens. Kombiniert haben wir das mit „Miracolo“, einer Bronzeskulptur von Marino Marini aus unserem Bestand. Das Pferd steigt und befreit sich aus seiner Unterwerfung. Noch sitzt der Reiter, aber er wird fallen.
Der zweite Ankauf steht in der Abteilung Kosmos.
Die Nigerianerin Otobong Nkanga hat einen schillernden Wandteppich geknüpft, der zugleich die Ausbeutung des Meeres und dort ertrunkene Flüchtlinge vor Augen führt. Ihm gegenüber hängen Sternenbilder von Anselm Kiefer und humorvolle Zeichnungen über den Weltraumschrott von Eva Genter.
Wo erkennt man Ihre Handschrift im Haus?
Wir haben die Ausstellung in Fragmenten aufgebaut und über das ganze Haus verteilt. Erstmals sind auch die Kuben mit der Bestandsausstellung Teil von „1,5 Grad“ geworden. Beschriftungen ziehen dort etwa bei den Landschaftsgemälden des 19. Jahrhunderts eine neue Reflexionsebene ein. Das Verhältnis von Mensch und Natur hat sich mit der Industrialisierung stark gewandelt.

Meeresverschmutzung und Arme toter Geflüchteter sind auf diesem Wandteppich zu entdecken.
Wie bewährt sich der 2018 eröffnete Neubau von Gerkan Marg und Partner in der Praxis?
Das große Atrium wird als gute Stube von der Stadtgesellschaft gerne in Anspruch genommen. Unser partizipatives Programm öffnet sich für vielfältige Initiativen. Diesmal haben wir ein „Grünes Zimmer“ eingerichtet: Wer die grüne Wende möchte, kann mit seinem kaputten Fahrrad in die Halle kommen zu den Spezialisten einer Fahrradwerkstatt. Auch dem Queeren Zentrum haben wir die große Bühne schon überlassen für Performances.
Hat die Kunsthalle die Nase vorn, wenn es darum geht, den CO-Abdruck des Museums klein zu halten?
Bereits bei der Sanierung des Jugendstilbaus legte die Kunsthalle als Leuchtturmprojekt großen Wert auf energetische Neuerungen. Der 2018 eröffnete Neubau der Kunsthalle entspricht dank seiner guten Dämmung und dem Einsatz von Wärmetauschern dem heutigen Passivhausstandard. Eine Photovoltaik-Anlage ist ebenso in Planung wie eine Dachbegrünung, die 2023 realisiert werden. Mir ist es wichtig, statt eines einmaligen Pilotprojekts dauerhaft Jahr für Jahr den Verbrauch von Ressourcen zu senken.
Prüfen Sie Ausstellungsvorhaben mit dem CO₂-Rechner, den Eon 2020 angeboten hat und der hundertfach verbreitet ist?
Nein, wir rechnen selbst nach einem Programm für Institutionen in Baden-Württemberg. Schwierig wird es bei den Zulieferern. Rechnet der Kunsttransporteur Hasenkamp seinen CO2-Ausstoß bei uns ab oder für sich? Wo das Publikum, das von Stuttgart her anreist? Wo unser Holzlieferant für die Stellwände? Einheitliche Grenzwerte fehlen noch. Standards sind dringend erforderlich.
Aber Sie verzichten dennoch nicht auf internationale Leihgaben, oder?
Keinesfalls wollten wir für „1,5 Grad“ auf unerlässliche internationale Leihgaben verzichten. Denn wir verankern uns nicht nur regional. Gleichwohl diskutieren wir jeden Leihgabewunsch und suchen nach Alternativen.
Virtuelle Kunst gibt es schon länger. Spielt sie in „1,5 Grad“ eine Rolle?
Daniel Canogars Werk „Phloem“ ist ein Algorithmus, der sich jeden Tag neu erfindet. Dafür werden Daten von Europas Energiewirtschaft ein Jahr lang zurückgerechnet und zu einem grafischen Darstellungsmuster verknüpft. „Phloem“ läuft auf dem digitalen Großbildschirm und auf einer Art Litfaßsäule im Atrium.
Und was macht Andreas Greiner mit KI?
Sein Foto „Jungle Memory_0010“ wirkt zunächst wie ein dichter Wald. Aber es ist kein Abbild, sondern mit KI aus Tausenden von Fotos konstruiert. Der Baumstamm ist zu dick, das Blattwerk wiederholt sich.
Was halten Sie von Kunst, die mit Stable Diffusion oder mit Dall_E komponiert wird?
Generative KI ist ein verblüffendes Werkzeug.
Das Publikum strömt jetzt in „1,5 Grad“, Sie und Ihre Mitarbeiter bereiten schon die nächsten Ausstellungen vor. Was kommt 2024?
Der Gründungsdirektor der Kunsthalle Mannheim Gustav F. Hartlaub prägte den Namen „Neue Sachlichkeit“ für den coolen Stil von George Grosz und vielen anderen. Die erste Gruppenausstellung fand 1925 hier statt. Daran erinnern wir ab Dezember 2024.
Was ist neu in Ihrer Betrachtung?
In unserer kritischen Revision erzählen wir auch, was Hartlaub wegließ. Er blendete die parallelen Bewegungen in Ungarn, Italien und den Niederlanden aus. Malerinnen ignorierte er komplett. Wir beleuchten auch, dass einige rechts orientierte Maler der Neuen Sachlichkeit ihre Karrieren im Nationalsozialismus fortsetzten. Es war eine Zeit voller Brechungen.
Ob der Besucher der Fahrradwerkstatt dann auch zur Revision der Neuen Sachlichkeit wiederkommt?
Mit dieser Ausstellung wenden wir uns dann wieder an das klassische Publikum. Aber wir wünschen uns natürlich, dass auch die ökologisch bewegten Besucherinnen und queeren Besucher wiederkommen. Nur so wird das Museum ein wahrhaft öffentlicher Raum.
Vielen Dank für das Interview.
Die Fragen stellte Susanne Schreiber
„1,5 Grad. Verflechtungen von Leben, Kosmos, Technik“: Die Ausstellung kuratierten Johan Holten, Anja Heitzer, Sebastian Schneider mit Pia Goebel. Bis 8. Oktober 2023 in der Kunsthalle Mannheim und auf dem BuGa-Gelände. Der Katalog erscheint im Hatje Cantz Verlag und kostet 44 Euro im Handel. Teil der Ausstellung ist die Schau „Das Insekt – Zu Darstellung in (Zeichen-)Kunst und Wissenschaft“, 12. Mai bis 20. August
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