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SpätgotikRevolution in der Skulptur

Niclaus Gerhaert zählt zur Kategorie der vergessenen Genies. In der Spätgotik schuf der „Donatello des Nordens“ atemberaubende Skulpturen und aufschlussreiche Bildnisse. Frankfurt stellt sein großartiges Werk vor.Michael Zajonz 21.01.2012 - 17:44 Uhr Artikel anhören

Niclaus Gerhaert: Kopffragment einer Sibyllenbüste, aufbewahrt im Frankfurter Liebighaus.

Foto: © Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main

Frankfurt. Versonnen, mit geneigtem Kopf und geschlossenen Lidern lehnt er sich an eine imaginäre Brüstung. Mit der rechten Hand greift er sich ans Kinn, die linke umklammert einen schwer deutbaren Gegenstand. Eine eigenartig animierende Drehung geht durch diese Skulptur – und erfasst den Betrachter. Vor rund 550 Jahren schuf der Bildhauer Niclaus Gerhaert von Leyden aus rotem Elsässer Kalksandstein die Büste eines Mannes, die das perfekte Abbild eines Melancholikers ist. Sie könnte, hat man immer wieder vermutet, ein Selbstporträt sein.

Dieser Künstler ist ein Paradox. Er gehört zur nicht einmal sonderlich kleinen Kategorie der vergessenen Genies. Wie sonst ist es zu erklären, dass der Name Niclaus Gerhaert von Leyden, obwohl von Zeitgenossen noch Jahrzehnte nach seinem Tod ehrfürchtig genannt, heute nur noch Spezialisten etwas sagt? Und das, obwohl er die nordalpine Skulptur revolutioniert hat, wie die großartige, bezeichnenderweise erste monografische Ausstellung seines Werks im Frankfurter Liebieghaus eindrucksvoll beweist.

Rund 70 mittelalterliche Skulpturen aus Stein und Holz, vom Meister (etwa 20) und mutmaßlichen Schülern und Nachfolgern geschaffen, versammelt an einem Ort: allein das ist schon eine Großtat, für die dem Kurator Stefan Roller nicht genug zu danken ist. Endlich einmal wird anschaulich, warum ausnahmslos alle Berühmtheiten der Generation nach ihm, Veit Stoß, Tilman Riemenschneider, Michael Pacher, von Niclaus Gerhaerts künstlerischen Neuerungen profitierten. Virtuosere Spätgotik gibt es nicht.

Niclaus Gerhaert: Haut; Haar und Stoff sind fein unterschieden in der spiralig aufgebauten Stein-Büste eines Mannes.

Foto: © Musée de l'Oeuvre Notre-Dame, Strasbourg

Wer war Niclaus Gerhaert? Um zu begreifen, was es mit diesem Donatello des Nordens auf sich hat, sollte man sich vergegenwärtigen, was man alles über ihn nicht weiß. Das Stochern im historischen Nebel beginnt bei Namen und Herkunft. Meister Niclaus aus Straßburg nennen ihn Urkunden, er selbst signierte mit „nvl“ oder mit Niclaus von Leyden und gab damit vielleicht das niederländische Leiden als seinen Geburtsort preis. Vielleicht. Andere Quellen nennen ihn Niclaus Gerhaert oder Gerhaerts, was so viel wie des Gerhaerts Sohn heißt. Die Kunstgeschichtsschreibung, die sich seit hundert Jahren Niclaus widmet, konnte sich auf keine verbindliche Schreibweise einigen.

Niclaus Gerhaert und Werkstatt: Die „Heilige Margarete aus Antiochien“ hatte eine attraktive Farbfassung.

Foto: The Art Institue of Chicago

Größtenteils hypothetisch und ein Paradebeispiel für die Grenzen der Kunstgeschichte ist auch das für Niclaus rekonstruierte Œuvre. Wirklich sicher durch Signaturen oder schriftliche Erwähnung zuzuweisen sind nämlich nur sechs Werke, entstanden in den elf Jahren zwischen 1462 und dem Todesjahr 1473. Fünf davon haben sich erhalten, alle in Stein. Sie sind in der Ausstellung präsent – im Original, als Gipsabformung oder als schwacher Ersatz im Großfoto.

Niclaus war zu seiner Zeit der wohl berühmteste Bildhauer nördlich der Alpen. Sein Ruf erreichte Kaiser Friedrich III., dem es erst im zweiten Anlauf gelang, ihn an den Wiener Hof zu holen – ein ungeheurer Vorgang. In Wien schuf Niclaus das Grabmal des Kaisers im Stephansdom und starb. Dieser Bildhauer – halb Handwerker, halb Hofkünstler – war nicht nur ungewöhnlich erfolgreich und selbstbewusst, er dürfte vor allem wesentlich produktiver gewesen sein, als uns die sechs gesicherten Arbeiten nahelegen – zumal er über eine Werkstatt mit Mitarbeitern verfügte und in Straßburg ein wohlhabender Mann gewesen ist.

Niclaus war auch als Holzbildhauer tätig, aus Gerichtsakten geht hervor, dass er geschnitzte Altarfiguren für das Konstanzer Münster geliefert hat. Diese einzigen durch eine Quelle gesicherten Holzbildwerke von seiner Hand sind leider während der Reformation vernichtet worden. Gleichwohl gibt es Holzskulpturen – und die Ausstellung zeigt einige davon –, die so atemberaubend raumgreifend, psychologisch überzeugend und mit ihren Hinterschneidungen und Zerklüftungen technisch so gewagt sind, dass nur er sie geschnitzt haben kann, meinen die Fachleute.

Wer sich als Kunstwissenschaftler mit Niclaus Gerhaert beschäftigt, muss also den Mut zur Spekulation mitbringen. Sind Faltenwurf, Gesichtstypus und Bearbeitungstechnik einer Figur typisch für den Künstler? Stilkritik nennt man die Methode, Kunstwerke aufgrund formaler Analysen einem Künstler zu- oder abzuschreiben. Man kann sich vorstellen, wie abhängig von Zeitgeschmack und Werturteilen des jeweiligen Wissenschaftlers so etwas ist. Wer sich in das Kleingedruckte im Katalog hineinliest, gewinnt eine Ahnung davon, dass die Gerhaert-Forschung bis heute umkämpftes weil unsicheres Terrain ist.

Zu den Verdiensten der Frankfurter Ausstellung gehört es, eine ganze Reihe von Niclaus zugeschriebenen Skulpturen auch unter restauratorischen und naturwissenschaftlichen Fragestellungen in den Blick genommen zu haben. Details wie die Art und Beschaffenheit farbiger Bemalungen – wenn sie denn zeitgleich mit dem Kunstwerk entstanden sind – können Indizien liefern, ob Werke miteinander in Zusammenhang stehen oder nicht.

Da gotische Bildhauer ihre Figuren jedoch selten selbst farbig fassten, sondern zur Bemalung in Spezialwerkstätten ablieferten, ist leider auch das kein letztgültiger Beweis. Das Frankfurter Ausstellungs- und Forschungsprojekt legt den Schwerpunkt auf Werkstattzusammenhänge, gattungsspezifische und kunsttechnologische Fragen. Unterbelichtet bleibt der frömmigkeitsgeschichtliche Kontext von Gerhaerts Skulpturen, also Fragen nach Funktionen und dem Erwartungshorizont von Auftraggebern, wie sie etwa Robert Suckale, Hartmut Krohm und Susanne Schreiber, Redakteurin dieser Zeitung, in ihren Forschungen beleuchtet haben.

Zum Glück plaudern Kunstwerke nicht über Forschungskontroversen, sondern sprechen unmittelbar und für sich. Und wie sie sprechen!

Allein der erste Raum mit dem Selbstbildnis, den beiden Straßburger Kanzlei-Büsten und den geschnitzten Heiligenfiguren Georg und Maria Magdalena aus dem Hochaltar der Pfarrkirche in Nördlingen – frisch gereinigt und konserviert – lohnen die Reise nach Frankfurt.

Schlagartig wird klar, was die suggestive Wirkung dieser Skulpturen bis heute ausmacht: Sie formulieren einen dynamischen Raum zwischen sich und uns, der der Charakterisierung der Figur dient und modernen Sehgewohnheiten vertraut vorkommt.

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Auf Niclaus’ Zeitgenossen müssen die mimetischen Qualitäten seiner „verlebendigten“ Skulpturen geradezu schockierend gewirkt haben. Und ein leichtes Schaudern werden wohl auch abgebrühte Museumsgänger kaum unterdrücken können angesichts des monumentalen Baden-Badener Kruzifixes, das im Liebieghaus als Gipsabguss gezeigt wird. Gottes Sohn stirbt als Mensch – und wir stehen fassungslos davor.

„Niclaus Gerhaert“ im Liebieghaus Frankfurt, bis 4. März. Gefördert durch Kulturfonds Frankfurt RheinMain, Kulturstiftung der Länder, Ernst von Siemens Kunststiftung. Der Katalog kostet im Museum 34,90 Euro, erschienen im Michael Imhof Verlag.

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