Zeitgenössische Kunst: Tim Berresheim – ein Künstler, der mit den Realitätsebenen spielt

War nie richtiger Punk, er bezeichnet sich selbst als "Euphoniker".
Aachen. Das Ziel ist eine Tür am Ende des Ganges. Das spärliche Licht aus dem Hausflur hatte gerade einmal gereicht, um hier unten den Lichtschalter zu finden. Nun zeigen sich an den Seiten weiße Stahltüren, wie sie typisch für Kellerflure sind. Doch die am Ende ist anders, silbergrau, größer. Dahinter geht es weiter. Ganz sicher.
Die Tür öffnet sich in einen kleinen Innenhof und zu einem Atelier, in dem Kunst auf eine andere Ebene gehoben wird.
Ein Meter 55. Auf dieser Höhe soll sich die Mitte der Bilder befinden, die ein Handwerker gerade an die Wand hängt. Tim Berresheim schaut sich das Ergebnis an. Er ist zufrieden. Nächstes.
Der Künstler, 43, ist erst vor wenigen Tagen mit seinem Team hier eingezogen. Früher war in dem Atelier in der Nähe des Aachener Bahnhofs einmal eine Backstube, dann eine Junggesellenwohnung. Erreichbar ist es nur durch den Keller des Vorderhauses oder den Hinterhof eines anderen Hauses. Noch lehnen Bilder in Luftpolsterfolie an der Wand. Bis zur Ateliereröffnung Anfang Mai ist noch einiges zu tun, auch die Küche ist noch nicht fertig.
Doch das muss alles nebenbei laufen. Der Künstler und sein Team bereiten Ausstellungen vor, gleich mehrere. In Riehen in der Schweiz werden seine Bilder gezeigt, auch in Aachen, Ende des Jahres im Marta Herford, im Oktober in London. Sie sind auch Teil einer Gruppenausstellung des Goethe-Instituts in Brasilien.
Von Tim Berresheims Bildern geht ein großer Reiz aus. Sie wecken Neugier: In welcher Technik sind sie entstanden? Einige Werke wirken wie Fotografien, aber sie sind es nicht. Andere wirken wie Malerei, aber auch das sind sie nicht.
Teilweise hätten die Bilder des Künstlers eine „verblüffende, haptische Erscheinung“, erklärt Ulrike Groos, Direktorin Kunstmuseum Stuttgart, auf die Frage nach Berresheims Ansatz. „Ihn beschäftigt die Frage, wie er in Zeiten der Digitalisierung aller Lebensbereiche als Künstler noch schöpferisch tätig sein kann“, sagt sie. Seit 15 Jahren arbeite er ausschließlich mit dem Computer, mit dessen Hilfe er Werke erschaffe, die gemalten und gezeichneten Werken in der optischen und räumlichen Anmutung ebenbürtig seien.

Das Werk sieht aus wie ein Foto, ist aber gescannter Wald.
Ab dem 5. Mai zeigt Berresheim im Kunstmuseum Stuttgart neue Werke in der Gruppenausstellung „Mixed Realities. Virtuelle und reale Welten in der Kunst“. Der Ausstellungsteil von Berresheim trägt den Titel „Suspension of disbelief“ – die Aussetzung der Ungläubigkeit. Der Begriff stammt vom britischen Philosophen Samuel Taylor Coleridge.
1817 hat er damit erklärt, warum Betrachter sich auf Kunst einlassen, auch wenn sie wissen, dass sie nicht unbedingt der Realität entspricht.
Unter anderem wird in Stuttgart auch das Bild „Pützchen“ zu sehen sein. Es zeigt detailgetreu eine kleine Kapelle im Wald in der Nähe von Aachen. Aber es ist kein Foto, es ist ein Ausschnitt aus einem 3D-Scan.
Einige Wochen zuvor steht der Künstler mit Wollmütze und Winterjacke auf einer kleinen Lichtung im Wald in der Nähe des „Pützchens“. Zwei Bänke würden zum Verweilen einladen, wäre es nicht so kalt. Letzte Schneereste halten sich wacker. Gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin baut er einen Laserscanner auf, der die Umgebung 300 Meter tief scannt, 500.000 Datenpunkte pro Sekunde sammelt, drei Minuten misst – und damit eine gigantische Datenwolke kreiert.
Das macht die Kunst von Tim Berresheim faszinierend anders. Seine Bilder werden zwar am Computer erstellt, aber sie sind dennoch real – zumindest in großen Teilen. Seinen 3D-Scans fügt er etwa Farben oder Gegenstände hinzu.

Verblüfft mit seiner haptischen Wirkung.
Für eine andere Werkgruppe programmiert er mit einem Grafikprogramm dreidimensionale Räume, legt Röhren hinein und schickt dann Millionen winziger Kügelchen hindurch, die sich physikalisch wie Wasser verhalten. Allerdings verbietet er den Kügelchen, die Wände der Röhren zu berühren. Das gibt ihnen eine Dynamik, die es in der Realität nicht gäbe. Sie verhalten sich also natürlich – und sie tun es nicht.
Zu sagen, Tim Berresheim sei bis zum Hals tätowiert, wäre falsch, denn der Hals ist auch noch tätowiert. Dazu würde die Beschreibung Punk passen, aber das ist er nicht. Nicht mehr vor allem. In sein Auto passt heute die ganze Familie. Die dem Punk oftmals innewohnende „Idee der Negation“, wie er es nennt, hat ihn nie interessiert. Er sei „vom Wesen Euphoriker“, sagt er. Nur funktionieren wollte er nie.
Nach katholischer Grundschule und katholischem Gymnasium lernte er mit 25 den Drehbuchautor Burkhard Driest kennen. Der erklärte ihm einleuchtend, dass „Maloche“ besser ist, als zu oft zu feiern. Durch einen Freund kam Berresheim dann 1998 an die Kunsthochschule Braunschweig, obwohl er sich bis dato für Kunst nicht interessiert hatte.
Aber dann traf er auf Hartmut Neumann. Durch den Professor habe er gelernt, dass er schlicht nicht genug über Kunst gewusst hatte, um sich dafür zu interessieren, erzählt er. Zwei Jahre später wechselte er an die Kunstakademie in Düsseldorf und studierte bei Albert Oehlen.

„Komm, Jung“, raunt der Künstler mit der tiefen Stimme in seinem Atelier in Aachen seinem Computer zu. Das Grafikprogramm lädt langsam. Dabei steht auf dem Schreibtisch bereits der leistungsstärkste Rechner von Apple. Um die Realität zu berechnen, braucht es Rechenkraft – und Geld. Während andere Künstler mit Leinwand und Farbe auskommen, braucht Tim Berresheim Technik, am besten immer die neueste. Allein der Laserscanner für die 3D-Scans kostet bis zu 50.000 Euro.
Tim Berresheim hat keine Berührungsängste mit der Wirtschaft. Für den Lebensmittelfarbenhersteller GNT hat er das Foyer gestaltet, plus App, plus Mitarbeiterzeitung. Für Audi hat er ein Golfturnier, eine Autoflotte und das gesamte Design mitgestaltet. Für solche Aktivitäten hat er eine GmbH gegründet, die SNA-Studios New Amerika. Da verkauft er auch eigene Merchandise-Produkte: T-Shirts und Feuerzeuge. Letzteres kostet drei Euro. Sein bisher teuerstes Kunstwerk, ein großformatiges Unikat, verkaufte er für 90.000 Euro.
Der Computer könnte seine Arbeit skalierbar machen: Einmal programmiert, könnte er Hunderte Unikate ausdrucken: Immer wieder eine neue Situation im Strom der Kügelchen wählen. Aus dem 3D-Scan zig verschiedene Perspektiven wählen, fertig. Macht er aber nicht. „Wir müssen eher auf die Bremse treten, wenn es um Kunst am Computer geht“, sagt er. Er will die Arbeit und die Mühe für die Kunstwerke in den Mittelpunkt zu stellen. Auch deswegen hat er sich entschlossen, bei der Ausstellung in Stuttgart seinen Arbeitsprozess nachzuzeichnen.





