Gastkommentar Pro & Contra: Sollten Aktienkonzerne ihre Hauptversammlungen virtuell abhalten?
PRO: Digitale Aktionärstreffen bieten vier handfeste Vorteile
Von Torsten Fues
Virtuelle Hauptversammlungen (HV) werden mitunter als zweitklassig verunglimpft. Manche Kritiker erwecken den Eindruck, es würden die Rechte der Aktionäre beschnitten. Das ist nicht der Fall. Wie kommt das Missverständnis zustande?
Während der Coronapandemie hatte der Gesetzgeber „Notstandsgesetze“ erlassen. Dabei wurden temporär Aktionärsrechte beschnitten. Aktionäre mussten etwa ihre Fragen zwingend vorab einreichen. Nachfragemöglichkeiten während der HV gab es bis auf freiwillige Ausnahmen nicht.
Doch die „Notstandsgesetze“ sind inzwischen Geschichte. Das virtuelle Format ist jetzt gleichwertig mit der klassischen Präsenz-HV: gleiches Rederecht, gleiches Fragerecht und gleiches Recht für weitere Anträge. Mehr noch, virtuelle HVs bieten weitere Vorteile.
Vorteil 1: Schutz vor Zufallsmehrheiten
Das Onlineformat hilft Zufallsmehrheiten zu vermeiden. Falls räuberische Berufskläger während der Versammlung „winkeladvokatische“ Zusatzanträge stellen, können sich größere Aktionäre jederzeit zuschalten.
Denn viele institutionelle Anleger dürfen keine Blankovollmachten ausstellen und die Weisung ausgeben, alle Ad-hoc-Anträge abzulehnen. Im Onlineformat können sich Fondsgesellschaften bei Bedarf schnell in die HV einklinken und abstimmen. Dies ist auch im Interesse der „normalen“ Aktionäre.
Das Onlineformat spart Zeit und Geld – und schont die Umwelt
Vorteil 2: Aktivere Präsenz
Vertreter großer Fondsgesellschaften treten seit einigen Jahren in den HVs prominenter Dax-Gesellschaften auf. Die Kapitalanlagegesellschaften können zu diesen Anlässen nicht Azubis schicken, sondern müssen wertvolle Managementkapazitäten einsetzen.
Reist ein Fondsmanager für eine Hauptversammlung von Frankfurt nach München, kostet das einen kompletten Arbeitstag. Bei virtuellen Formaten kann derselbe Manager seine Arbeitszeit sinnvoller einsetzen oder sich bei einer zweiten, parallel laufenden HV aktiv einbringen.
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Vorteil 3: Umweltschonend
Wenn Hunderte von Aktionären deutschlandweit durch die Republik fahren, sind das vermeidbare ökologische Fußabdrücke. Onlineformate bringen weniger CO2-Ausstoß, weniger Reifenabrieb und weniger Stress bei der Anreise – und sind daher gut für die ESG-Bilanz der Unternehmen.
Vorteil 4: Oft kostensparend
Als Faustformel gilt: Bei mehr als 50 bis 100 teilnehmenden Aktionären ist das virtuelle Format günstiger. Denn mit höheren Teilnehmerzahlen wachsen die Kosten für Raummiete oder Catering. Das gilt umso mehr, als nach Corona die Raummieten einen kräftigen Sprung nach oben gemacht haben.
Das ist zwar für die Gewinn-und-Verlust-Rechnung der Unternehmen nicht kriegsentscheidend. Da HVs aber Teil der Betriebskosten sind, sollten auch hier mögliche Ersparnisse nicht ignoriert werden.
Der Autor:
Torsten Fues ist Vorstandsmitglied des Unternehmens Better Orange, das Hauptversammlungen organisiert.
CONTRA: Virtuelle HVs sind Gift für die Aktionärskultur
Von Ingo Speich
Der erste Realitätscheck zeigt Ernüchterung: Zweimal ging während der TUI-Hauptversammlung Mitte Februar eine Stunde lang technisch nichts mehr. Selbst der Stoßseufzer des Versammlungsleiters Dieter Zetsche, „Drücken Sie sich und uns die Daumen“,- half nichts. Bei Siemens Energy bekamen Aktionäre zu Beginn keinen Zugang und während der Generaldebatte waren teils schwarze Bildschirme zu sehen.
Die virtuelle HV ist als Hoffnungsträger gestartet und als Rechts- und Reputationsrisiko für Unternehmen gelandet. So bequem sie für Aufsichtsräte und Vorstände ist, so sehr ist sie Gift für die Aktienkultur.
Die HV ist mehr als ein Notartermin, sie ist ein Ort der Begegnung – in Präsenz hat sie einen höheren Informationsgehalt: Die Stimmung im Raum ist zu spüren, es kommt zum Austausch zwischen den Investoren.
Für Kleinaktionäre ist die HV zudem die einzige Gelegenheit, Kontakt zu Vorstand und Aufsichtsrat aufzunehmen. Unternehmen können bei virtuellen HVs anordnen, dass Aktionäre ihre Fragen vorher einreichen. Beantwortet werden diese dann online im Aktionärsportal und finden nicht den Weg in die HV.
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Die Aktionäre wissen häufig nicht, ob der gesamte Vorstand und Aufsichtsrat überhaupt anwesend ist und zuhört. Daher besteht bei einer virtuellen HV das Risiko, dass sich Vorstand und Aufsichtsrat in ihren Elfenbeinturm zurückziehen. Die Emotionen bleiben auf der Strecke.
Virtuelle Formate steigern weder die Präsenz, noch sorgen sie für Internationalisierung
Die Mär von der gestiegenen HV-Präsenz bei virtuellen Formaten ist nicht durch Fakten gedeckt. Die Präsenz des stimmberechtigten Kapitals stagniert seit fünf Jahren bei rund 67 Prozent im Dax. Das virtuelle Format konnte in den letzten beiden Jahren keine zusätzlichen Teilnehmer anlocken.
Bei der virtuellen Siemens-Hauptversammlung am 9. Februar lag die Präsenz bei nur 61 Prozent. Lediglich 3187 Aktionäre waren bei der Siemens-HV im Internetservice dabei – nur halb so viel wie früher bei Präsenzhauptversammlungen in der Olympiahalle.
Auch die viel gelobte Internationalisierung wird sich nicht durchsetzen. Ein Großteil der Aktionäre lebt in den USA, wo es zum Startzeitpunkt der HV noch mitten in der Nacht ist.
Unternehmen sollten nicht am falschen Ende sparen. Eine Chance, das Beste aus zwei Welten zusammenzubringen, ist die hybride HV. Die Aktionäre können dann selbst entscheiden, ob sie virtuell oder in Präsenz teilnehmen.
Schließlich sind die Aktionäre nicht irgendeine Stakeholder-Gruppe, sondern sie sind als Eigenkapitalgeber die wichtigste Gruppe und tragen das volle Risiko. Das sollten den Unternehmen ihre Eigentümer wert sein.

Der Autor:
Ingo Speich ist Leiter Nachhaltigkeit und Corporate Governance bei Deka Investment.
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