Prüfers Kolumne: Und dann tut es mir leid, doch dann bin ich zu spät

Tillmann Prüfer ist Mitglied der Chefredaktion des „Zeit-Magazins“.
Meine Mutter sagt mir immer wieder, dass ich genau am errechneten Stichtag geboren sei. Das allerdings war das letzte Mal, dass ich im Leben pünktlich gewesen bin. Ich komme einfach immer, immer zu spät. Es ist dafür auch völlig unerheblich, was ich etwa vor einem Termin zu tun habe.
Wenn ich davor viel Zeit habe, mache ich viele Sachen, wenn ich wenig Zeit habe, mache ich wenige Sachen. Es ist jedenfalls immer gleichermaßen zu viel, ich werde nicht rechtzeitig fertig, ich kriege es nicht „on time“ auf die Reihe und komme nicht rechtzeitig los, deswegen komme ich auch nicht rechtzeitig an.
Die Menschen, die auf mich warten müssen, denken dann, dass ich getrödelt hätte, aber das stimmt nicht. Ich bin immer unter Volldampf, hetze durch die Straßen, zische, fluche, renne – und komme zu spät in die Konferenz gehetzt, irgendeine atemlose Entschuldigung keuchend.
Man hat auch immer wieder gemutmaßt, diese ständigen Verspätungen gehörten zu meiner „Masche“. Ich würde also absichtlich zu spät kommen, damit sich jedes Mal die Augen auf mich richteten, wenn ich das Meeting betrete. Auch wurde mir in diesem Zusammenhang vorgeworfen, ich wollte damit meine Geringschätzung für die anderen ausdrücken: Alle sind da – während ich mir erlaube, sie auf mich warten zu lassen, so als sei ich eben der Wichtigste.
Das entspricht allerdings nicht meinem Empfinden: Es ist mir sehr unangenehm und ich schäme mich. In der Schule habe ich regelmäßig schlechtere Noten bekommen – weil ich immer zu spät kam.
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Ich habe aber jetzt aus der „Süddeutschen Zeitung“ erfahren, dass ich daran gar nicht schuld bin. Es hat nämlich medizinische Gründe, wenn Menschen immer zu spät kommen. Das Zeitempfinden der Menschen hängt nämlich mit ihrer Persönlichkeit zusammen. Menschen mit einer eher entspannten Lebenseinstellung haben das Gefühl, dass die Zeit langsamer vergeht.
Ehrgeizige Leute hingegen haben eine sehr exakte Zeiteinschätzung. Sie kommen deswegen auch eher nie zu spät. Die Forschung teilt die Menschen in zeit- und erlebnisorientiert ein. Die Erlebnisorientierten machen ständig etwas und nachher läuft ihnen die Zeit davon.
Man nennt diese Menschen auch „Eigenzeitorientierte“. Solche Menschen sind keineswegs nur mit Defiziten belastet. Sie sollen mehr im Hier und Jetzt leben und können sich auch besser in Arbeit vertiefen. Ich mag das Wort „eigenzeitorientiert“, es hört sich viel besser an als „fremdzeitorientiert“.




Ich bin also einfach jemand, der ein anderes Zeitempfinden hat. Ich hätte also in der Schule meinem Lehrer, der mein späteres Eintreffen monierte, selbstbewusst entgegenrufen können. „Ich komme keineswegs zu spät, meine Eigenzeit ist nur in Konflikt mit der Fremdzeit geraten.“ Leider kommt auch diese Erkenntnis für mich – zu spät.





