Gastkommentar – Homo oeconomicus Die Lehre aus den Überschwemmungen: Wir müssen der Natur Raum geben

Viele Häuser sind durch die Flutkatastrophe zerstört worden.
Die Unwetter im Juli in Teilen Deutschlands haben alle Befürchtungen übertroffen. Damit dürfte klar werden, dass der Klimawandel nicht nur Bangladesch, Kalifornien, Jakutien und andere entfernte Weltgegenden betrifft. „Wohnen am Wasser“, für Immobilienmakler hierzulande bisher ein schlagendes Verkaufsargument, hat einen schalen Beigeschmack bekommen. Dass die politisch Verantwortlichen daraus keine radikalen Konsequenzen ziehen, kann nur diejenigen erstaunen, die von ihnen weitsichtige Entscheidungen erwarten.
Politiker repräsentieren ihre Wähler und deren mehrheitlich gegenwartsbezogenen, allenfalls auf die nahe Zukunft gerichteten Interessen. Daher ihr Fokus auf das überschaubare und in der Regel gut kontrollierbare Hier und Jetzt. Daher auch ihr starkes Bemühen um Sicherheit und Ordnung und um unseren Wohlstand. Es soll keinen Anlass für Unruhe geben.
Kommt es dann doch hin und wieder zu – regelmäßig „völlig unvorhersehbaren“ – Einschnitten und Situationen der Unordnung, laufen Politiker zur Hochform auf, wissen genau, was zu tun ist, ergreifen Sofortmaßnahmen und stellen Soforthilfen und Wiederaufbau in Aussicht. Jahrzehntelange Versäumnisse interessieren dann so wenig wie an den Ursachen ansetzende Lösungen.
Wer auf tiefgreifende Veränderung pocht, wird als Visionär gescholten. Deswegen sind Politikern Revolutionen ein Graus – weil sie Kontrollverluste bedeuten und auf unbekanntes Terrain, zu einer Neuordnung führen. Ihre Verlustängste wissen die Politiker auf ihre Wähler zu übertragen.
Wir ahnen es: Der Kontrollverlust hat längst eingesetzt – aber die Neuordnung steht noch aus. Die Fluten zeigen uns auf tragische Art: Experten und Verantwortungsträger können sich irren. Technik, die für schützend und sicher erklärt wurde, kann zum Tode führen. Auch Besitzstandswahrung kann tödlich enden.
Mehr Raum für die Natur notwendig
Werden Regierende und Parlamentarier, Kreis- und Gemeinderäte jetzt nach altem Muster verfahren? Werden sie wie gehabt versuchen, die Natur einzuhegen und sie allen möglichen „übergeordneten Interessen“ unterzuordnen?

Ulrich Kriese ist Sprecher für Bau- und Siedlungspolitik des Naturschutzbunds (Nabu) und Mitbegründer der Reforminitiative „Grundsteuer: Zeitgemäß!“.
Also (noch) höhere Dämme und (noch) größere Regenrückhaltebecken bauen und den privaten, aber leider oft kurzsichtigen Interessen vieler ihrer Wähler und der Wirtschaft Raum geben, bloß um irgendwann wieder betroffen in Mikrofone zu sprechen?
Naturschützer warnen seit jeher vor dem Bauen in Überschwemmungsgebieten, der Begradigung und Vertiefung von Bächen und Flüssen, dem Trockenlegen von Feuchtgebieten, der Versiegelung der Böden. Meistens wurden ihre Bedenken in den Wind geschlagen. Vieles war der Mehrheit wichtiger.
Nötig wäre jetzt – endlich – der geordnete Rückzug: Mehr Raum für die Natur! In der Geschichte der Menschheit käme das einer Revolution gleich. Wir müssten lernen, die Natur zu respektieren und uns ein gutes Stück nach ihr zu richten; lernen, anstelle der Flüsse unsere Hybris einzudämmen.
Also: kritisch gelegene Bauten und Infrastrukturen zurückbauen, überspülte Ortsteile aufgeben, Flussauen wiederherstellen, Land- und Forstwirtschaft ökologisieren, aus Maisäckern wieder Feuchtwiesen und Moore, aus Einheitsforsten wieder Wälder machen.
Die Neuordnung muss in moderierten Verfahren mit allen Betroffenen jeweils vor Ort erarbeitet, der Wandel vom Staat finanziell unterstützt werden. Ob wir im großen Stil dazu in der Lage sind? Es mag angesichts der von den Fluten zerstörten Ortschaften absurd erscheinen, aber die Verlustängste könnten sich als das größte Hindernis erweisen.
Mehr: Alarmstufe Rot fürs Klima – Weltklimarat warnt in neuem Bericht vor Kontrollverlust
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