Geoeconomics: Russland legt alte Denkweisen nicht ab – und überschätzt sich deshalb


Parade der russischen Armee in Moskau: Am 9. Mai wird traditionell des Sieges über Nazi-Deutschland gedacht.
Erst vor wenigen Tagen hat Kremlchef Wladimir Putin erneut die Erwartung geäußert, die Ukrainer würden noch erkennen, dass sie eigentlich zu Russland gehören und ihren faschistischen, gegen das Land gerichteten Kurs aufgeben. Also „heim ins Reich?“ Dass eine stabile ukrainische Mehrheit das mindestens seit 2014 anders sieht, scheint im Kreml ignoriert zu werden.
Wie kann es zu solchen Fehleinschätzungen kommen? Sie knüpfen an die Erwartungen vom Februar 2022 an, dass die russische Armee in Kiew mit offenen Armen empfangen und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski außer Landes gejagt werden würde.
Ohne einen Rückblick auf jahrhundertealte imperialistisch-kolonialistische Traditionen Russlands, die das Zarenreich und auch noch den Zweiten Weltkrieg überdauerten, lässt es sich kaum erklären.
Im Westen ist der deutsche Völkermord an den Hereros heute so geläufig wie die Massaker amerikanischer Siedler an den indigenen Stämmen Nordamerikas oder die brutalen Praktiken englischer oder französischer Kolonialpolitik. Aber haben wir uns mal mit den Eroberungs- und Unterwerfungsfeldzügen Russlands befasst? Es ist der Sowjetunion seit den frühen 60er-Jahren erstaunlich gut gelungen, sich als Freund und Förderer unterdrückter Völker zu präsentieren.
Die große Zahl über Jahrhunderte unterdrückter, eliminierter oder zumindest brutal „integrierter“ Ethnien, Stämme und Völker zwischen Baltikum und Wladiwostok fiel dabei weitestgehend unter den Tisch.
Keine Aufarbeitung von Russland
Das Zarenreich, das die Sowjetunion zu Beginn des 20. Jahrhunderts erbte, war in Wahrheit ein Beispiel kolonialistischer Eroberungs- und Unterdrückungspolitik. Mit dem Unterschied, dass in der russischen Politik kein Versuch der Aufarbeitung unternommen wurde, bis heute nicht, mehr als 30 Jahre nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums, von dessen Wiedererrichtung Putin träumt.

Putin träumt dem Autor zufolge mehr als 30 Jahre nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums von dessen Wiedererrichtung.
Als ich vor 30 Jahren, 1993, zum Chef des Planungsstabs des Auswärtigen Amts berufen wurde, lag das Ende der Sowjetunion und des Warschauer Pakts weniger als zwei Jahre zurück. Eine meiner ersten Aktivitäten war den Wünschen unserer östlichen Nachbarn, allen voran Polen, gewidmet, Mitglied der Nato und der EU zu werden. Wie sollten wir auf diese Wünsche reagieren?
Mit zwei Mitarbeitern reiste ich nach Warschau, dann nach Kiew und von dort weiter nach Moskau. Im russischen Außenministerium wurde ich von Vizeaußenminister Georgij Mamedow freundlich empfangen und zum Abendessen eingeladen.

Wolfgang Ischinger ist ehemaliger Botschafter in Washington und war Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz.
Ich ergriff nach den ersten Toasts die Gelegenheit, um eine Frage zu stellen: Sowohl in Warschau wie auch in Kiew, so berichtete ich, sei ich mit Sorgen konfrontiert worden. Man habe Angst vor Moskau.
Wir Deutschen kennen das, unsere Nachbarn haben ja auch viele Gründe gehabt, Deutschland zu fürchten. Deshalb habe sich die Bundesregierung ja auch seit Jahrzehnten intensiv um Vertrauensbildung bemüht, insbesondere auch durch die Entspannungspolitik gegenüber den östlichen Nachbarn, einschließlich Russlands.
Inzwischen könnten wir stolz vermelden, dass alle Nachbarn mit uns in Harmonie und guter Nachbarschaft lebten. Frage: Was plant Moskau zu tun, um etwa den Polen und den Ukrainern die Angst vor Russland zu nehmen? Mamedows Antwort: Lieber Wolfgang, was bitte ist denn falsch daran, wenn unsere Nachbarn in Angst und Schrecken vor Russland leben?
Machtpolitisches Denken hat sich gehalten
Zunächst war ich sprachlos – und bin es eigentlich bis heute. Denn dieses alte machtpolitische Denken, damals vor 30 Jahren vielleicht noch historisch nachvollziehbar, hat sich in Moskau bis heute gehalten.
Nur so sind die rücksichtslosen russischen Vorgehensweisen in den vergangenen drei Jahrzehnten in Tschetschenien, in Georgien, in der Ukraine und in anderen Konfliktsituationen im Bereich der früheren Sowjetunion zu erklären.
Von Belarus mal abgesehen, sind weithin eher Absetz- als Integrationstendenzen zu verzeichnen. So etwa auch bei Kasachstan, das sich klar vom russischen Krieg gegen die Ukraine distanziert hat.
Russland, so lautet das Fazit, zeigt sich weitestgehend unfähig zu Allianz- und Vertrauensbildung. Statt die Nachbarn zu respektierten Freunden zu machen, bleibt Russland bei seinen traditionellen Droh- und Einschüchterungsversuchen gegenüber seinem sogenannten „Near Abroad“.
So berichtet das Handelsblatt über den Ukraine-Krieg:




Ein zum Scheitern verurteiltes Rezept: Russland verfügt zwar über zehn Zeitzonen, ist aber ganz allein. Selbst für China ist die Partnerschaft mit Russland kein zweifelsfreier Gewinn mehr. Und in diesen Tagen ist zu besichtigen, wie auch die Staaten Afrikas der russischen Antikolonialismuspropaganda nicht mehr ohne Weiteres auf den Leim gehen. Russland – home alone?
Der Autor war Staatssekretär im Auswärtigen Amt und leitete die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) von 2008 bis 2022. Er ist jetzt Präsident des MSC-Stiftungsrats.
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