Kolumne „Out of the box“: Whistleblowing führt zu Gesetzestreue – und zu Gedankenarmut


Frank Dopheide ist Gründer und Geschäftsführer der Unternehmensberatung Human Unlimited, die sich auf das Thema „Purpose“ spezialisiert hat. Zuvor war er unter anderem Sprecher der Geschäftsführung der Handelsblatt Media Group und Chairman von Grey Worldwide.
Wer auf einem Chefsessel in der Wirtschaft oder der Politik sitzt, ist ein attraktives Ziel für kommunikative Heckenschützen – häufig aus dem eigenen Lager, der zweiten Reihe und dem Unterholz ehemaliger Mitstreiter. Friendly Fire, jedoch aus voller Absicht.
Schmerzhafte Wirkungstreffer oder der schnelle Karrieretod sind dabei das Ziel. Das Risiko, getroffen zu werden, steigt, der firmeneigene Server vergisst nichts. Was rauskommen kann, kommt raus. Private WhatsApp-Nachrichten, Besprechungsberichte, alte Fotos von Firmenfeiern: Alles rückt ins grelle Licht der Öffentlichkeit. Die Frage ist nur, wann. Erfahrungsgemäß eher früher als später, auf jeden Fall aber im unpassendsten Moment.
Nie war Informationsbeschaffung so leicht wie heute. Sie ist zum Lieferservice geworden. Anders als der junge Günter Wallraff muss sich der investigative Wirtschaftsjournalist heute nicht mehr undercover einschleusen. Ihm genügen eine verschlüsselte Leitung und Quellenschutz, schon kommt die brisante Information frei Haus – live aus dem Aufsichtsratsmeeting. In der Welt der Wirtschaft gibt es jede Menge offene Rechnungen.
Dabei kann Whistleblowing eine reinigende und stabilisierende Wirkung haben. Mit der breitenwirksamen Kraft eines Mediums hält es Egos und Übersprunghandlungen in Grenzen. Seit siebenhundert Jahren stellt der Pranger seine erzieherische Wirkung unter Beweis, heute vor einem Millionenpublikum.
Fehlt diese Öffentlichkeit, wächst die Unredlichkeit, wie eine Harvard-Studie nachweist. Das Einstellen zahlreicher Lokalzeitungen in den USA führte zum Anstieg der kriminellen Energie an allen Ecken: Betrug, Finanzvergehen, Wasser- und Luftverschmutzung, Korruption und Verstöße gegen das Arbeitsschutzrecht. Kriminelles und unethisches Verhalten muss öffentlich gemacht und sanktioniert werden. Keine Frage.
Unternehmen brauchen geschützte Räume
Allerdings hat das allgegenwärtige Friendly Fire auch abseits von Fehlverhalten Nebenwirkungen auf die Psyche, die Kultur und die Entscheidungen. Was passiert mit einem Unternehmen, wenn es keinen geschützten Raum mehr gibt? Wird es paranoid? Leiden Transformation und Innovation? Was, wenn das Handelsblatt schon vor Wochen über die milliardenschweren Verkaufsabsichten der Familie Viessmann berichtet hätte?
Wirtschaftsminister Habeck, Zigtausend Mitarbeiter und der Oberbürgermeister von Allendorf wären vor die laufenden Kameras getreten, hätten Sand ins Getriebe der Verkaufsmaschine gestreut und ihren Emotionen freien Lauf gelassen. Dass der Hersteller von Heizungsanlagen zu hundert Prozent Eigentum der Familie ist, wäre in der Diskussion nur ein untergeordnetes Argument gewesen.
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Wie soll das radikale Verändern bestehender Grenzen und Geschäftsmodelle gelingen, wenn es keinen Schutzraum für unsinnige, absurde, theoretische und emotionale Gedankensprünge gibt? Darf Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing eine Bank denken, in der es keine einzige Filiale mehr gibt? Unvorstellbar, wenn das an die Öffentlichkeit gelangt. Das ist ein Problem für Unternehmen, wenn es darum geht, sich neu zu erfinden. Und genau darum geht es heute – in allen Industrien.





Denken wir an den Tauschhandel von Eon und RWE. Ein Strategiesprung wie dieser, der alle überraschte und beiden Unternehmen neue Möglichkeiten eröffnete, wäre im „geleakten“ Licht der Öffentlichkeit indiskutabel gewesen. Eine hochkomplexe Idee von in bis dahin unbekannter Dimension: 40 Milliarden Euro schwer, 54 Millionen betroffene Kunden, ordnerweise juristische Hürden, Abertausende irritierte Mitarbeiter und kommunale Anteilseigner.
Denkverbote nehmen in Unternehmen zu
„Man kann denken, wohin und soweit man will“, hat uns einst Ernst Jandl gelehrt. In den Unternehmen allerdings nehmen die selbst auferlegten Denkverbote zu, aus Sorge vor dem unkontrollierbaren Shitstorm. Das Unaussprechliche und Unausgesprochene führt zu schweren Kommunikationsstörungen. Passt man jungfräuliche Gedanken schon im geschützten Raum der öffentlichen Druckwelle an, verlieren die Entscheider*innen Diskussionsstoff, Reibung, Schärfe und Erkenntnis.
Der geschützte Raum muss geschützt werden. Er ist das Zukunftslabor und notwendige Experimentierfeld für das Undenkbare, das Halbgare, das Unvorstellbare. Ein einzigartiger Wachstumsraum für neue Gedankenwelten. Der Übungsraum, um sich selbst und seiner Sache sicher zu werden, ehe es jemand an die große Glocke hängt. Wenn wir es nicht mehr wagen, die Zukunft hemmungslos zu denken, dann haben wir auch bald keine mehr.
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