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RESET – DIE KOLUMNE ZUM WOCHENENDE Warum sich Politiker nicht von Meinungsumfragen dirigieren lassen sollten

Der Kandidaten-Krach in der Union berührte eine Grundsatzfrage: Soll Demoskopie über die Führung einer Partei entscheiden? Auf gar keinen Fall, findet Thomas Tuma.
23.04.2021 - 06:10 Uhr 2 Kommentare
Wer taugt besser als Kanzlerkandidat? Der bayerische Sonnenkönig Markus I. oderr der schmunzelhasige NRW-Hobbit?
Markus Söder und Armin Laschet

Wer taugt besser als Kanzlerkandidat? Der bayerische Sonnenkönig Markus I. oderr der schmunzelhasige NRW-Hobbit?

Woran sollen Politiker ihr Streben und Handeln ausrichten? An der Parteiräson? Ihrem eigenen Gewissen? Vielleicht an der Frage, was ihr Land dauerhaft vorwärtsbringt? Seit Kurzem kommt als weitere Option hinzu, dass Meinungsumfragen alles andere in den Schatten stellen. Im Fall der Union lautete der demoskopische Imperativ: „Stellt Markus Söder als Kanzlerkandidat auf, weil er die viel besseren Wahlchancen hat als Armin Laschet!“

Ich will hier gar nicht über Söder oder Laschet richten. Das machten schon die Politik- und Feuilletonredaktionen der Republik. Allenfalls wunderte ich mich darüber, wie die beiden innerhalb weniger Tage zu Karikaturen ihrer selbst überzeichnet wurden: Hier der bayerische Sonnenkönig Markus I., dem mit wohligem Grusel attestiert wird, dass er ein gnadenloser Machtmensch sei und ein geborener Anführer. Dort der schmunzelhasige NRW-Ministerpräsident, der sich die Fettnäpfchen, in die er tritt, höflicherweise selbst hinstellt.

Ich glaube, dass beide Beschreibungen den Kandidaten nicht gerecht werden. Aber darum geht es hier ja auch nicht. Ihr Rennen ist entschieden, was indes bleibt, ist die bleierne Frage: Welche Rolle sollen im politischen Prozess Meinungsumfragen spielen?

Vor einem halben Jahr habe ich selbst bei einer mitgemacht. Nicht aus Begeisterung, sondern weil ich aus Versehen doch mal ans Telefon gegangen bin, als mich zum gefühlt siebenundachtzigsten Mal eine studentische Hilfskraft mit unterdrückter Telefonnummer anrief, um auf Mindestlohnbasis meine Präferenzen abzuklopfen. „Dauert auch nur fünf Minuten.“ Das sagen sie immer.

In meinem Fall ging es dann eine halbe Stunde nicht um Kanzlerkandidaten, sondern um Automarken und Brotaufstrich. Die Fragen sollten helfen, das Produkt zu verbessern, nehme ich an. Aber anders als beim Brotaufstrich würde ich einen Kanzlerkandidaten doch gar nicht verändern wollen. Im Gegenteil: Ich möchte, dass er oder sie stabil authentisch für einen gewissen Wertekanon steht. Man nennt das Charakter.

Umfragen haben vor allem Unterhaltungscharakter

Im Fall der politischen Demoskopie ist der Grat schmal geworden zwischen dem Auftrag, Wähler oder wenigstens Parteibasis zu repräsentieren und sich also ihre Wünsche anzuhören, und blankem Opportunismus. Sonderlich valide ist das Instrument ohnehin nicht. Wäre es nach Meinungsforschern gegangen, hätte Gerhard Schröder 2005 das Kanzleramt erobert und 2016 Hillary Clinton die US-Präsidentschaft. Kam aber anders, wie man weiß.

Umfragen sind Momentaufnahmen mit einem gewissen Unterhaltungsfaktor, aber ohne Nachhaltigkeit. Nun werden Sie einwenden, dass eine Bundestagswahl ja nichts anderes sei. Und natürlich stimmt das.

Alle vier Jahre machen wir uns sonntags auf den Weg in muffige Grundschulklassenzimmer, um dort unsere Wahlzettel in den Schlitz riesiger Mülltonnen zu werfen. Aber es ist eben dieser eine Tag. Da gilt’s. Meinungsumfragen dagegen machen aus politischem Alltag einen ermüdend-hyperventilierenden Dauerwahlkampf.

Abgesehen davon: Wer weiß denn aktuell schon, was ich persönlich am Stichtag 26. September wirklich wählen werde? Also ich nicht. Der Herbst ist noch lange hin. Unsere Sprunghaftigkeit wollten Teile der Union trotzdem nun zum Maßstab ihrer wichtigsten Personalie machen. Ich halte das auch deshalb für fragwürdig, weil es ein paar andere Faktoren gibt, die bei einer so wichtigen Entscheidung eine Rolle spielen sollten.

Nein, nein, jetzt gehe es eben „nicht um persönliche Sympathie, Vertrauen oder Charaktereigenschaften“, widersprach Sachsen-Anhalts CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff. Es stelle sich nur noch „die harte Machtfrage: Mit wem haben wir die besten Chancen?“. Das war eine bemerkenswerte Reduktion, finde ich, zumal Haseloff zurzeit auch Bundesratspräsident ist. Da sollte man die Charakterfrage vielleicht nicht ganz so salopp wegwischen. Ich befürchte, dass er es ziemlich ehrlich gemeint hat.

Jedenfalls klang es wie: „Wir wollen die Wahl gewinnen, egal mit wem oder welchem Programm.“ Das wirkte übrigens ähnlich alternativlos wie der Kampf gegen Corona, der sich auch nicht mehr um so etwas Anstrengendes wie Grundrechte schert.

Wer nach Meinungsumfragen Politik macht, will nicht den Fortschritt, sondern nur das persönliche Fortkommen befeuern. Wenn das kein Populismus ist, weiß ich es nicht. Haseloff treibt die Angst. Zum Beispiel vor der AfD, die zuletzt 21 Prozent der Stimmen abräumte in Sachsen-Anhalt, wo schon im Juni die nächsten Landtagswahlen stattfinden. Noch mehr Angst als vor der Rechten hat er davor, dann seinen Job zu verlieren. Es geht jetzt um viele solcher Jobs.

Haseloff fehlt offenbar jegliches Vertrauen in die eigene politische Überzeugungskraft, in sein persönliches Wahlprogramm oder gar den Kandidaten Laschet, den seine Partei vorher ja in einem langatmigen Prozess zu ihrem Vorsitzenden gewählt hat. Angst ist aber kein guter Ratgeber.

Bekommen wir einen Kanzler Günther Jauch?

„Everybody’s Darling is everybody’s Depp“, sagte einst Franz Josef Strauß, Vorbild und Vorgänger jenes Markus Söder, der das übrigens gut kann: sich zum Demoskopen-Darling zu machen. Man hat ihn schon sehr fundamentalistisch rechts erlebt. Und seit 2019 ein Volksbegehren für mehr Artenschutz in Bayern Erfolg hatte, gibt sich Söder ähnlich knallgrün wie jener Shrek, in dessen Rolle er schon mal durch den Fasching zog. Welcher Söder ist der echte? Der Bienen-Retter und Bäume-Umarmer, oder der Kruzifix-Kämpfer? Oder gibt es gar keinen wahren Söder, weil der Franke eben ein Chamäleon ist?

Hier jedenfalls wird das Grundsatzproblem moderner Mediendemokratien verhandelt: Sollen Meinungsumfragen über die Führung einer Partei entscheiden ... oder eher die Führungskräfte versuchen, mit klaren Standpunkten die Meinungsumfragen für sich zu gewinnen?

Beim Kampf zwischen Laschet und Söder ging es ja nie um inhaltliche Unterschiede, sondern um schiere Zahlen. Ist Markus Söder also besser fürs Land, weil er mit 275.000 Followern eine fast doppelt so große Fanbase bei Twitter hat als Laschet? Müssten wir dann nicht gleich Rezo zum Kanzler wählen (460.000) oder noch besser Manuel Neuer (4 Millionen)?

Die Gleichen, die sonst vor allzu viel direkter Demokratie warnen und – zu Recht – das repräsentative Element unseres parlamentarischen Systems hochhalten, richten sich plötzlich nach den Mikro-Plebisziten von Meinungsumfragen. Wo soll das hinführen? Zu einem Kanzler Günther Jauch?

Wenn es einen Neustartknopf für die Politik gäbe, würde ich sie von allen Meinungsumfragen befreien wollen. Als Wähler will ich doch Persönlichkeiten, keine Abziehbilder. Ich will Köpfe, keine Sprechpuppen. Sonst könnten wir das Geschäft künftig auch von Algorithmen erledigen lassen. Bin ich der Einzige, der das so sieht? Bin ich da zu romantisch?

Übrigen, die ersten Meinungsumfragen geben mir recht: CDU und CSU verloren durch den schmutzigen Kandidatenkampf drastisch an Zustimmung. Intern wird jetzt sicher noch lange gestritten, ob das daran lag, dass Söder sich geschlagen geben musste, oder daran, dass er überhaupt angetreten war. Nur eines ist sicher: Auch dazu wird es wieder jede Menge Umfragen geben.

Sie sehen das anders – oder haben Anmerkungen, Fragen, vielleicht ein Thema, um das sich diese Kolumne auch mal kümmern sollte. Diskutieren Sie unten mit unserem Autor oder wenden Sie sich vertrauensvoll direkt an ihn: [email protected]

Mehr: Trotz Streit um die K-Frage: Union legt in Wählergunst zu.

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2 Kommentare zu "RESET – DIE KOLUMNE ZUM WOCHENENDE: Warum sich Politiker nicht von Meinungsumfragen dirigieren lassen sollten"

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  • Der Text spricht mir aus dem Herzen

  • Leider wird ja mittlerweile schon vorauseilend auf drohende Shitstorms von BLM, cancel culture oder Nazi-Geschrei reagiert.

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