Der Chefökonom: Die Wirtschaft stagniert – eine Rückbesinnung wäre hilfreich


Die Soziale Marktwirtschaft ist im kollektiven Gedächtnis der meisten (West-)Deutschen ein Zeichen für das Wirtschaftswunder der 1950er- und frühen 1960er-Jahre. Sie steht seit sieben Dekaden für das implizite Versprechen eines wachsenden Wohlstands der Bevölkerung. Die bisherigen neun Rezessionen mit zumeist nur leicht und kurzfristig schrumpfender Wirtschaftsleistung änderten daran nichts. „Exportweltmeister“, „Jobwunder“, „Europe’s Powerhouse“ und „schwarze Null“ wurden zu geflügelten Worten.
Die beiden Großen Koalitionen der goldenen 2010er-Dekade sahen diese Erfolge als selbstverständlich an. Dabei verdrängten sie jedoch den bestens prognostizierten Alterungsschub der Bevölkerung und das Auslaufen der zu Beginn der 1990er einsetzenden Globalisierungsphase, deren großer Gewinner die deutsche Volkswirtschaft war. Als es im Hitzesommer 2018 erste Anzeichen für eine gesamtwirtschaftliche Abschwächung ab, wurden diese mit Verweis auf das Niedrigwasser im Rhein abgetan.
Heute zeigt sich: Der vermeintlich ewig währende Aufschwung lief Ende 2017 aus – und 2020 machte der Pandemieausbruch alle Hoffnungen auf eine Überwindung dieser Industrierezession zunichte. Seitdem befindet sich die deutsche Volkswirtschaft im Dauerstress: Corona, Lieferketten-Crash, Krieg in der Ukraine und Inflation hinterließen in Deutschland deutlich tiefere Spuren als in den anderen EU-Ökonomien.
Die deutsche Volkswirtschaft stagniert seit 18 Quartalen
Während in 24 EU-Staaten die Wirtschaftsleistung heute zumeist merklich größer als vor der Pandemie ist, stagniert die deutsche Volkswirtschaft seit 18 Quartalen. Schlechter lief es nur in Tschechien und Finnland.
Nach den amtlichen Daten waren die Reallöhne in Deutschland im ersten Quartal dieses Jahres niedriger als zum Jahresauftakt 2018, und dementsprechend schwach entwickelte sich der private Konsum. Daher verwundert es nicht, dass zunehmend mehr Menschen der Ansicht sind, dass die Soziale Marktwirtschaft ihr implizites Versprechen nicht mehr einlöst.
Die Politikverdrossenheit wächst, und die politischen Ränder erstarken – nicht zuletzt in Ostdeutschland. Die unbestreitbaren Wohlstandsverluste führen zu Stimmengewinnen bei populistischen Parteien, die einfache Lösungen wie „Ausländer raus“ oder „Frieden jetzt“ propagieren.
Umfragen zufolge dürfte es bei den drei anstehenden Landtagswahlen schwierig werden, Regierungen ohne Beteiligung der AfD oder des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) zu bilden.
Bemerkenswert ist, dass sich auch die Anti-Establishment-Parteien auf die Soziale Marktwirtschaft berufen. „Wir wollen die Soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard wiederbeleben und Wohlstand für alle schaffen“, hieß es im AfD-Wahlprogramm 2021.
Das BSW beklagt, dass das Aufstiegsversprechen der Sozialen Marktwirtschaft nicht mehr gelte, da der persönliche Wohlstand längst wieder vom sozialen Status der Eltern abhänge. Wagenknecht hatte 2013 als damalige stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei sogar gesagt, „Ludwig Erhard wäre bei uns mit seinen Ansprüchen am besten aufgehoben“.
Soziale Marktwirtschaft geht nicht auf Ludwig Erhard zurück
Konzept und Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ gehen – anders als oft geglaubt und kolportiert – nicht auf Ludwig Erhard zurück, sondern auf Alfred Müller-Armack. Bereits vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwarf Müller-Armack, der akademische Lehrer des Verfassers dieses Textes im Fach Wirtschaftspolitik, das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft.
In dieser Wirtschaftsordnung sah er eine irenische, friedensstiftende Formel, die darauf abzielt, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“. Letztlich geht es um den Versuch, in einer freien, wettbewerbsorientierten Wirtschaft zwei Elemente zu verbinden: Zum einen soll in erster Linie die Preisbildung von der Knappheit der Güter bestimmt werden, zum anderen soll die Politik soziale Verantwortung übernehmen, also Markteinkommen und Vermögen umverteilen.
Solange der allgemeine Wohlstand und die potenzielle Umverteilungsmasse zunahmen, traf dieses Konzept auf eine breite Zustimmung. Doch seit der Pandemie mehren sich die Sorgen vor sozialem Abstieg – vor allem in Ostdeutschland. Der Anteil der tariflich Beschäftigten ist dort laut dem Statistischen Bundesamt mit 44 Prozent geringer als im Westen mit 51 Prozent.
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Wegen des insgesamt merklich niedrigeren Lohnniveaus arbeiten in den ostdeutschen Ländern weit mehr Menschen zum Mindestlohn. Außerdem sind die Alterseinkünfte deutlich niedriger, zumal Wohneigentum und Privatvermögen geringer sind und die betriebliche Altersversorgung kaum verbreitet ist.
Die Sorgen vor Strukturbrüchen und Arbeitsplatzverlust sind nach den Erfahrungen mit der Deutschen Einheit immer noch tief verwurzelt. Gleichzeitig schüren Meldungen über steigende Dividenden, Börsenkurse und die Entwicklung der Dax-Vorstandsgehälter Neid und Missgunst.
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Befeuert durch die sozialen Medien breitet sich das Gefühl aus, es gehe in Deutschland zunehmend ungerechter zu – auch wenn objektive Belege dafür rar sind. So zeigt ein aktuelles Prognosemodell des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, dass die Ungleichheit der Arbeitseinkommen in Deutschland seit dem Höhepunkt der Pandemie nur „leicht zugenommen hat“.
Fokus auf den Kern der Sozialen Marktwirtschaft
Der Befund, dass die Unzufriedenheit im Gleichschritt mit der Eintrübung der wirtschaftlichen Erwartungen steigt, sollte die Politik zum Anlass nehmen, sich auf den Kern der Sozialen Marktwirtschaft zu besinnen: Investoren und Konsumenten brauchen verlässliche Rahmenbedingungen, eine vorhersehbare Wirtschaftspolitik und einen effizienten Staat, der Raum für Innovationen und Investitionen bietet.
Um das umzusetzen, sind Protagonisten der wirtschaftlichen Effizienz, die gleichzeitig großzügige Subventionen und Steuervergünstigungen fordern, ebenso wenig geeignet wie Kämpfer für mehr soziale Gerechtigkeit, die vorrangig die Lage der eigenen Klientel verbessern und ihren eigenen politischen Einfluss erhöhen wollen.
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Die Einzelmaßnahmen des von der Bundesregierung geplanten Wachstumspakets weisen in die richtige Richtung. Allerdings ist kein Gesamtkonzept erkennbar, das den Unternehmen und Konsumenten einen verlässlichen Weg durch die anstehenden Transformationsprozesse weist. Ohne dass das Trendwachstum von derzeit nur noch 0,5 Prozent deutlich gesteigert wird, dürfte diese Transformation nicht zu schaffen sein.





Die Soziale Marktwirtschaft muss nicht neu erfunden werden, aber sie muss mit neuem Leben gefüllt werden. Statt ad hoc Neuansiedlungen von Unternehmen generös zu subventionieren, könnte ein Steuer- und Sozialsystem ein Ansatz sein, das die erforderlichen Hilfen leistet und gleichzeitig Beschäftigungsanreize setzt. Ebenso wäre eine Umweltpolitik angebracht, die Klimaschutz und Wachstumseffizienz vereint.
Ein erster und kostenloser Schritt zur Identifizierung und Lockerung von Wachstumsbremsen wäre es, allen Gesetzentwürfen eine obligatorische Abschätzung der Folgen für das Potenzialwachstum beizufügen. So könnten sich die Parlamentarier und Wähler ein Bild über die gesamtwirtschaftlichen Folgen ihres Abstimmungsverhaltens machen.





