Editorial: Die Wirtschaft übertreibt es selbst mit der Bürokratie

Die Stimmung, erzählte mir neulich einer, der tief im deutschen Mittelstand vernetzt ist, sei „so schlecht wie zu schlimmsten Ampelzeiten“. Ein anderer sagte diese Woche: „Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Politik einfach keinen größeren Schaden anrichtet.“ Das ist der Sound in diesem Herbst. Verbände stimmen ein, fordern „Befreiungsschläge“, „Aufbruchssignale“ und eine „Agenda“ – für praktisch alles, was ihrer Ansicht nach gerade schiefläuft.
Und es läuft ja wirklich nicht alles rund. Die deutsche Wirtschaft tritt seit Jahren auf der Stelle – das Bruttoinlandsprodukt liegt ungefähr dort, wo es 2018 war. Das von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche prognostizierte Wachstum von 1,3 Prozent für 2026 basiert zu großen Teilen auf dem neuen Schuldenpaket der Bundesregierung, nicht auf einer neuen Wirtschaftsdynamik.
Doch hört man den Verbänden zu, scheint das Schicksal der deutschen Wirtschaft allein im Kanzleramt entschieden zu werden: Wachstum, Innovation, Wettbewerbsfähigkeit – alles nur eine Frage der richtigen Politik, lautet der Tenor. Eine neue Staatsgläubigkeit der Wirtschaft spricht aus solchen Aussagen.
Diese Sicht ignoriert eine unbequeme Wahrheit: Ein Teil der Industrie steckt in einer selbst verschuldeten Strukturkrise – jahrelang überdeckt von einem märchenhaften China-Boom, von dem die deutsche Wirtschaft ganz besonders profitierte. Nach der Finanzkrise erlebten die Unternehmen goldene Jahre, in denen deutsche Maschinen und Anlagen gefragt waren wie nie. Der Erfolg war so groß, dass viele Unternehmen verlernten, sich mit der Zukunft zu beschäftigen.
Die deutsche Autoindustrie steht sinnbildlich für dieses Land: lange stolz, lange erfolgreich, dann selbstzufrieden und zunehmend unbeweglich. Während in Kalifornien die Zukunft programmiert wurde, schraubten deutsche Ingenieure noch am perfekten Kolbenring. Jetzt kaufen sie Batterien in China und schauen den selbstfahrenden Taxis in San Francisco hinterher – während ihre Produkte auf dem Weltmarkt an Bedeutung verlieren.
Ja, die Politik hat ihren Anteil an der deutschen Industrie-Misere: zu hohe Abgaben, zu langsame Genehmigungen, ein Arbeitsrecht, das die Transformation quer durch alle Branchen bremst.
Doch ebenso wahr ist: Die Krise der Industrie ist auch das Ergebnis unternehmerischer Fehlentscheidungen – weit über die Autoindustrie hinaus. Im Maschinenbau etwa holen chinesische Wettbewerber mit unglaublicher Geschwindigkeit auf. Ihre Produkte sind nicht nur billiger, sondern oft besser vernetzt, digitaler, schneller anpassbar – wie mir kürzlich ein Siemens-Manager sagte.
Der Boom der goldenen Zehnerjahre hat überdeckt, dass viele deutsche Firmen dank ihres Erfolgs die eigene Erneuerung immer weiter hinauszögerten. Die Industrie ist nicht nur Opfer der Politik, wie viele Verbandsleute gern suggerieren, sondern auch Opfer ihrer eigenen Selbstzufriedenheit.
Womit wir beim Thema Bürokratie wären – dem Wort, das in keiner Rede eines Verbandschefs fehlen darf. Und die Verbände haben recht: Das Regelgeflecht aus Brüssel und Berlin ist in Teilen außer Kontrolle geraten. Lieferkettenberichte, Nachhaltigkeitsnachweise, ESG-Kataloge – der Papierberg wächst schneller als das Bruttoinlandsprodukt.
Gleichzeitig haben sich viele Unternehmen in den fetten Jahren ein bequemes Korsett aus selbst gemachter Komplexität zugelegt: zu viele Hierarchiestufen, unklare Zuständigkeiten, Gremien ohne Entscheidungswillen. Hinzu kommen endlose Videokonferenzen, überflüssige Abstimmungsschleifen und Führungskräfte, die aus Angst vor Fehlern lieber gar nichts entscheiden.
Deutschland erlebt zwei Bürokratien: eine, die in Berlin Gesetze schreibt. Und eine, die in den Unternehmen Powerpoint-Präsentationen produziert. Beide lähmen das Land.
Neulich hörte ich von einem Computerprogramm, das den Mauszeiger alle paar Minuten minimal bewegt, damit Microsoft Teams die Person hinter dem Rechner als „aktiv“ registriert. Erfunden wurde es nicht in einer Behörde, sondern in einem deutschen Konzern. Natürlich arbeiten viele Behörden ineffizient – aber in manchem Unternehmen sieht es kaum besser aus.
All das könnten die Firmen ohne jede Hilfe aus Berlin ändern. Niemand hindert sie daran, Abläufe zu verschlanken, Entscheidungen zu beschleunigen – oder in ihre eigene Zukunft zu investieren.
Dies aber fiel der deutschen Wirtschaft in den vergangenen Jahren schwer. Zwar sind die Ausgaben für Forschung und Entwicklung zuletzt wieder gestiegen. Doch der Blick in die Statistiken zeigt: Ein Großteil des Geldes fließt in traditionelle Felder wie Maschinenbau, Chemie, Automobiltechnik, also in sogenannte Mitteltechnologien, wie eine Studie des Ifo-Instituts und anderer europäischer Wirtschaftsforscher zeigt. In den USA dagegen hat sich die Forschungsdynamik klar in Richtung Hightech verschoben: Software, Halbleiter, Biotechnologie.
2013 lagen Europa, die USA und China bei der Forschungsintensität im Hightech-Sektor noch nahezu gleichauf. Seither haben die USA und China ihre Investitionen in diesem Bereich massiv ausgeweitet – während Europa vor allem darauf setzt, bestehende Technologien zu verfeinern.
Die Zahlen zeigen auch: Die Hightech-Stärke der USA ist kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis unternehmerischen Wagemuts. Firmen und Investoren haben dort entschieden, in Zukunft zu investieren – nicht in Nostalgie. Auch Deutschland konnte das einst. Stahlwerke und Motorenfabriken waren die Start-ups ihrer Epoche.
Berlin kann viele Gesetze ändern, und die neue Bundesregierung ist durchaus gewillt, dies zu tun, wie die jüngsten Entscheidungen der Koalition zeigen. Aber den wichtigsten Paragrafen muss die Wirtschaft selbst neu schreiben: den Willen zur Erneuerung.
Erstpublikation: 10.10.2025, 09:46 Uhr.
