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EditorialDarf man das noch sagen?

Meinungsfreiheit ist mehr als ein Grundrecht. Sie ist das Zentrum unserer Demokratie, das gefährlich schrumpft, wenn wir Widerspruch nicht mehr aushalten.Sebastian Matthes 26.09.2025 - 09:55 Uhr
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Handelsblatt-Chefredakteur Sebastian Matthes. Foto: Max Brunnert für Handelsblatt

Vor einigen Tagen habe ich in einem Kommentar über Jimmy Kimmel geschrieben – den US-Moderator, dessen Late-Night-Show nach einem Monolog über den Tod des Aktivisten Charlie Kirk gestrichen wurde. Kimmels Absetzung war ein Lehrstück darüber, wie schnell die Meinungsfreiheit selbst in der ältesten Demokratie der Welt unter Druck geraten kann, wenn deren Regierung das will.

Wo aber Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, stirbt der offene Diskurs – und mit ihm das Ringen um die besten Ideen: Die Demokratie verliert ihre Zukunftsfähigkeit.

Mittlerweile ist die Show von Jimmy Kimmel zurück auf dem Bildschirm, aber das Thema hat sich damit nicht erledigt. Viele Medienkonzerne ringen darum, es der Regierung von Donald Trump nicht zu schwer zu machen, damit ihre Geschäfte nicht leiden, bei denen der Journalismus oftmals vor allem ein Kostenfaktor ist – mit relativ kleinem Gewinnbeitrag.

Nach meinem Kommentar zu Kimmel erhielt ich Dutzende Zuschriften. Viel Zustimmung – aber fast überall dieselbe Frage: Wie kann man über Meinungsfreiheit schreiben, ohne den Fall Julia Ruhs zu erwähnen?

Die Moderatorin war nach interner Kritik beim NDR abgesetzt worden. Der Vorwurf ihrer Kolleginnen und Kollegen: journalistische Mängel. Die Reaktion: Empörung aus dem politischen Raum in einer bislang ungekannten Allianz – von Carsten Linnemann bis Heidi Reichinnek. In den sozialen Medien gab es sowieso kein Halten mehr.

Jimmy Kimmel: Seine Show kommt ins US-Fernsehen zurück. Foto: dpa

Eines vorab: Der Fall Julia Ruhs ist nicht vergleichbar mit dem Fall Kimmel, in dem der mächtigste Mann der Welt Sender unter Druck gesetzt hat, um einen Kritiker aus dem Weg zu räumen. Beim NDR wurde in der Pilotphase einer neuen Sendung eine Moderatorin ausgetauscht, weil Kollegen einen Brief an die Senderspitze geschrieben haben.

Die Debatte mit dieser Feststellung zu beenden, wäre einfach. Aber falsch.

Die Reaktionen auf den Fall Ruhs sind Ausdruck eines tiefer liegenden Unbehagens. Nur noch rund 40 Prozent der Deutschen glauben laut Allensbach, ihre Meinung frei äußern zu können. In den Achtzigerjahren waren es doppelt so viele.

Woher kommt dieses Unbehagen?

Die Meinungsfreiheit ist fest im Grundgesetz verankert. Aber sie ist eben mehr als ein Verfassungsartikel. Sie muss im sozialen Raum auch gelebt werden können. Es geht also um die Frage, in welchem gesellschaftlichen Klima Menschen ihre Ansichten äußern – und mit welchen sozialen Konsequenzen sie rechnen müssen.

In digitalen Netzwerken wie X ist scheinbar alles sagbar. Doch inzwischen wird dort jede Äußerung binnen Sekunden in Rastern der Moralbewertung vermessen – und mit Shitstorms oder Häme beantwortet. Plattformen wie X sind kein Ort für den Diskurs mehr, sie sind algorithmisch getaktete Pranger. Das Klima der Empörungsreaktionen hat sich inzwischen auf die politischen und gesellschaftlichen Debatten außerhalb von X und Co. ausgeweitet.

In der Flüchtlingskrise hatten Menschen, die sich kritisch zur Willkommenspolitik äußerten, mitunter das Gefühl, rasch in eine Nazi-Ecke geschoben zu werden. Klimaschützer wiederum wurden von Kritikern bisweilen als „Klima-Terroristen“ diffamiert. Anklage statt gesunder Streit prägt heute viele Debatten. So entsteht ein Meinungsklima, in dem zwar keine staatliche Zensur wirkt – aber die Angst vor sozialer Ächtung.

Das wiederum trifft auf eine mediale Öffentlichkeit, deren Meinungskorridore in den vergangenen Jahren schmaler geworden sind. Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk etwa sind die konservativen Stimmen nahezu vollständig verloren gegangen, ebenso fehlen profilierte wirtschaftsliberale Perspektiven. Übrig geblieben ist eine, wie es Wissenschaftler der Universität Mainz nennen, eher linke „Sozialstaatspräferenz“.

Diversität spielte im Meinungsspektrum selten eine Rolle

Aber natürlich wäre es Unsinn zu glauben, dass die selbst ernannten „alternativen“ und den Extremen nahestehenden Medien besser wären. Sie behaupten sich meist dadurch, der anderen Seite stets niedrigste Motive zu unterstellen und sich eben gerade nicht auf ihre Argumente einzulassen.

Genau darum aber muss es gehen. Viele Redaktionen großer Medienhäuser haben in den vergangenen Jahren zwar intensiv um Vielfalt gerungen, sich dabei aber oft auf die – zweifellos wichtigen – Fragen nach Geschlecht und Herkunft ihrer Redakteurinnen und Redakteure beschränkt. Diversität im Meinungsspektrum spielte viel zu selten eine Rolle, der Debattenraum wurde enger statt weiter.

Wenn dann noch – wie während der Ampelregierung – eine Bildungsministerin darüber nachdenkt, Professoren mit bestimmten politischen Ansichten die Fördergelder zu streichen, oder ein Vizekanzler dagegen klagt, als „Schwachkopf“ bezeichnet zu werden, verstärkt sich zu Recht der Eindruck, die Meinungsfreiheit würde immer weiter eingeschränkt.

Alice Weidel und Markus Preiß: Sommerinterview unter Protest. Foto: Joerg Carstensen/dpa

Dazu passt, dass offenbar eine wachsende Zahl von Menschen der Meinung ist, es sei legitim, Veranstaltungen von Menschen zu unterbinden, die politisch anders auf die Welt blicken. Die Störer im ARD-„Sommerinterview“ mit Alice Weidel sind nur ein Beispiel dafür.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich halte Alice Weidel und ihre Partei für eine Gefahr für die Demokratie und die Meinungsfreiheit, nicht nur wegen ihres verächtlichen Umgangs mit Menschen, die andere Perspektiven und Meinungen haben.

Aber was passiert mit unserer Debattenkultur, wenn wir nicht einmal mehr hören wollen, was die andere Seite zu sagen hat? Es wird  niemand gezwungen, die genannten Vorschläge gleich in die Tat umzusetzen.

Meinungsfreiheit endet nicht nur dort, wo der Staat sie beschränkt. Sie endet auch dort, wo Debattenräume schrumpfen – durch Konformitätsdruck statt Neugier, durch moralische Entrüstung statt Argumente, durch den Reflex, jede Abweichung nach links oder rechts vom eigenen Weltbild als etwas Unanständiges zu brandmarken.

Wenn wir wieder lernen wollen, offen zu streiten, braucht es nicht weniger Meinung, sondern mehr Zumutung – mehr Konfrontation mit Sichtweisen, die womöglich unbequem sind, aber legitim.

Diese Verantwortung liegt auch bei Redaktionen. Unsere wichtigste Aufgabe ist es, nüchtern und präzise die Fakten zu liefern, auf deren Grundlage sich Menschen ihre eigene Meinung bilden können. Natürlich gehören auch Meinungsbeiträge zu unserer Arbeit. Dort ist es aber ebenso wichtig, den Raum für argumentativen Widerspruch offen zu halten – und ein möglichst breites Meinungsspektrum auszuleuchten. Nicht um allen zu gefallen, sondern um Erkenntnis zu ermöglichen.

Eine offene Gesellschaft entwickelt sich durch den Wettstreit der Ideen und Konzepte, nicht durch Konsens in den Perspektiven. Ein glaubwürdiger Journalismus muss diesen Wettstreit nicht nur abbilden, sondern ermöglichen.

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