Kommentar – Der Chefökonom: Die Grünen scheitern an der hohen Kunst der Realpolitik


Laut Entwurf zum Heizungsgesetz soll von Anfang 2024 an möglichst jede neueingebaute Heizung zu mindestens 65 Prozent mit Öko-Energie betrieben werden.
Beim Top-down-Management werden Zielvorgaben von der Führungsspitze einer Organisation getroffen und dann an die unteren Hierarchieebenen weitergereicht – in der Erwartung, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen die Entscheidungen akzeptieren und zielorientiert ausführen.
Dieser traditionelle Ansatz mag in Behörden und patriarchalisch geführten Unternehmen zielführend sein. Um wichtige politische Entscheidungen in einer demokratischen Gesellschaft umzusetzen, funktioniert dieses Vorgehen jedoch nicht.
Damit wären wir bei Robert Habeck (Grüne), dem Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz. Bestärkt von dem guten Ergebnis seiner Partei bei der letzten Bundestagswahl und einem Koalitionsvertrag, in dessen Zentrum die klimapolitische Wende steht, waren die verantwortlichen Politiker der Grünen der Überzeugung, nicht nur das richtige Ziel zu vertreten, sondern auch den besten Weg dorthin zu kennen.
Die Folge war, dass man sich als außenstehender Beobachter an das ökonomische Modell des dem Allgemeinwohl verpflichteten, wohlmeinenden Diktators erinnert fühlen konnte.
Dieses Konstrukt wird in guten Ökonomievorlesungen aber nur als Gedankenexperiment verwendet, um Kooperationsdilemmata oder Marktversagen zu lösen. Hinter dieser Denkfigur steht der Glaube, dass es jenseits der Auseinandersetzungen innerhalb und zwischen Parteien und Interessenvertretungen eine Lösung gibt, die allen Vorteile bringt.
Klimaschutz gilt auch bei Wählern in weiten Teilen als alternativlos
Allerdings zeigte der Ökonomie-Nobelpreisträger Kenneth Arrow schon vor mehr als siebzig Jahren in seiner Doktorarbeit, dass es nicht möglich ist, über demokratische Abstimmungen so etwas wie eine soziale Wohlfahrtsfunktion zu ermitteln. Nicht zuletzt deshalb sind die zahlreichen Utopien des „idealen Staates“ zumeist totalitärer Natur.
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Mit Blick auf die Klimapolitik gilt es nach der überwiegenden Meinung von Wissenschaftlern als erwiesen, dass es der menschengemachte CO2-Ausstoß ist, der das Weltklima aufheizt, und dass eine weitere ungebremste Erwärmung dramatische gesellschaftliche und ökonomische Folgen haben wird.
Unstrittig ist ebenfalls, dass Klimaschutzmaßnahmen erst mit einer deutlichen Zeitverzögerung wirken und selbst ein – hypothetischer – sofortiger Verzicht auf fossile Brennstoffe die Erderwärmung zunächst nicht stoppen würde.

Der Bundeswirtschaftsminister verliert in Umfragen an Beliebtheit.
Somit herrscht zumindest in Deutschland und in weiten Teilen Europas die Überzeugung vor, dass es zum Klimaschutz und zur schrittweisen Dekarbonisierung von Wirtschaft und Gesellschaft keine Alternative gibt. Insofern verwundert es nicht, dass mit diesem Thema Wahlen gewonnen werden, selbst wenn es sich um Kommunalwahlen handelt.
Grüne müssen realistische Zwischenziele in der Klimapolitik definieren
Nun sind also die für die Klimarettung gewählten Politiker am Zug – und erleiden offensichtlich gerade einen Realitätsschock. Denn ungleich schwieriger, als ehrgeizige Ziele zu benennen und zu beschließen, ist es, realistische Zwischenziele für den nationalen Beitrag zur Begrenzung der Erderwärmung zu definieren – kurzum das, was man Realpolitik nennt.
Realpolitik ist nämlich oft nicht nur eine Frage des Ziels, sondern gleichermaßen auch eine von Weg und Timing, also der Fragen nach dem Wie und Wann. Winfried Kretschmann, der Ministerpräsident von Baden-Württemberg und „grünes Urgestein“, bringt es mit Blick auf das umstrittene Heizungsgesetz auf den Punkt: „Man kann von niemandem etwas verlangen, was er nicht kann.“
Daher wäre die bundespolitische Führung der Grünen gut beraten, Gespräche mit Spitzenpolitikern ihrer Partei zu suchen, die in der ersten rot-grünen Koalition auf Bundesebene wichtige Ämter innehatten. Damals gelang es der Schröder-Fischer-Regierung durchaus, beachtliche Reformen durchzusetzen.

Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats sowie Berater mehrerer Bundesregierungen und ausländischer Regierungen. Mehr zu seiner Arbeit und seinem Team unter research.handelsblatt.com.
Diese wurden oft von Kommissionen vorbereitet, die bei einer Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle spielen können. Solche Gremien haben idealerweise die Aufgabe, nationale und internationale Erfahrungen zur Lösung eines Problems zu sichten und darauf aufbauend eine konsistente und umsetzbare Strategie zu entwickeln.
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Zur – ungeschriebenen – Aufgabe von Kommissionen gehört es aber immer auch, unbequeme Wahrheiten zu formulieren und zu diskutieren sowie dem politischen Entscheidungsprozess zeitliche Spielräume nicht zuletzt auch für öffentliche Debatten zu verschaffen.
Anders als reine Expertenrunden können Kommissionen, die mit Vertretern der organisierten Interessen besetzt sind, die öffentliche Willensbildung und den politischen Entscheidungsprozess beschleunigen, indem sie Konflikte antizipieren und Kompromisslinien zwischen den Kommissionsmitgliedern ausloten.
Zudem kann die Administration frühzeitig in die Entscheidungsfindung eingebunden werden. Die meist sehr kundigen Fachbeamten können mit ihrem Wissen um Fragen der praktischen Umsetzung viele Ideen befördern und verändern – aber auch verhindern.
Kompromisse in der Politik schaffen Vertrauen
Wie heute der Klimawandel galt Anfang der Nullerjahre die unzureichende finanzielle Nachhaltigkeit der Sozialversicherungen als gravierendes Problem. In der zweiten Hälfte dieser ersten Dekade war es die scheinbar ausufernde Staatsverschuldung. In den von außen zäh anmutenden Verhandlungen in einer Föderalismuskommission einigten sich schließlich Bund und Länder sowie die relevanten politischen Parteien darauf, eine neue Schuldenbremse im Grundgesetz zu verankern.
Der ausgehandelte Kompromiss schaffte Vertrauen, als die Finanzkrise die deutsche Volkswirtschaft im Winter 2008/9 heimsuchte. Und man hielt trotz der ungemein schweren Rezession daran fest. Spätestens seit der Energiekrise 2022 als Folge des Ukrainekriegs gerät diese Schuldenbremse jedoch immer stärker unter politischen Beschuss, wohl auch weil mittlerweile der Rückhalt in Teilen der Bevölkerung und der Wissenschaft abhandengekommen ist.
In einer freiheitlichen Gesellschaft ist das Allgemeinwohl stets so etwas wie die sich wandelnde Diagonale im Parallelogramm der jeweiligen gesellschaftlichen Kräfte. Das Gemeinwohl ist nie etwas Objektives, a priori Gegebenes oder wissenschaftlich Messbares.

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Wer als Politiker erfolgreich gestalten will, der kann zwar versuchen, dieses Parallelogramm zu stauchen oder zu strecken und damit die Diagonale zugunsten seiner vermeintlichen Anhänger zu verschieben. Der Glaube, einer großen Mehrheit aus Anhängern anderer Parteien und Nichtwählern die eigenen Vorstellungen aufzwingen zu müssen oder auch nur zu können, ist zum Scheitern verurteilt.
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Von Helmut Schmidt ist das Bonmot überliefert: „Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen“. Wer Realpolitik betreiben will, der sollte hingegen die ebenfalls von Schmidt vertretene Erkenntnis beachten, dass „in einer Demokratie jedem gestaltenden Schritt ein Mehrheiten beschaffender Prozess vorausgehen muss“.






Allein die Tatsache, dass ein Gesetz durch das Parlament gebracht und verabschiedet wurde, ist noch keine Garantie dafür, dass dieses Gesetz auch gut ist. Aber selbst das beste Gesetz nutzt nichts, wenn es dafür in Bundestag und Bevölkerung keine Mehrheit gibt. Dies scheint nun auch Habeck erkannt zu haben. Demokratie kann, ja muss, oft mühselig sein.
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