Kommentar: Schwarz-Rot verbummelt wertvolle Zeit


Der Ökonom Herbert Giersch prägte in den 1980er-Jahren den Begriff „Eurosklerose“, um einen Reformstau und die verringerte Wachstumsdynamik der europäischen Volkswirtschaften zu beschreiben. Gierschs Analyse verband sich mit der Sorge, dass Europa im Wettbewerb mit den USA und Japan zurückfallen werde.
40 Jahre später lässt sich diagnostizieren: Die Eurosklerose ist zurück. Das vereinte Europa verliert an Wettbewerbsfähigkeit, die Zukunft wird in Amerika und Asien gestaltet. Das ist der düstere geoökonomische Hintergrund, vor dem sich die Koalition von Union und SPD in dieser Woche zu ihrer Kabinettsklausur traf. Nach eineinhalb Tagen Beratungen verfestigt sich allerdings der Eindruck, dass Deutschlands neue Regierung wertvolle Zeit verbummelt.
Vizekanzler Lars Klingbeil klagte intern, „Hauptgegner“ von Schwarz-Rot sei die „Laune“ im Land. Was für ein Irrtum!
Schwindendes Wachstumspotenzial
Der Hauptgegner der Koalitionäre ist ihre eigene Behäbigkeit. Wichtige Reformdiskussionen wurden in Kommissionen ausgelagert, dringende Entscheidungen über das Renten- und das Gesundheitssystem vertagt. Der Eindruck, die Regierung sei nicht in der Lage, verkrustete Strukturen in der Verwaltung und im Sozialstaat zu lösen, trägt nicht dazu bei, Zukunftsängste von Bürgern und Unternehmen zu vertreiben.
Der Sozialstaat ist in seiner jetzigen Form nicht mehr finanzierbar, mehr noch: Er hemmt Deutschlands Wachstumspotenzial. Die Babyboomer gehen in Rente, das Arbeitsangebot schrumpft. Es wäre dringend nötig, Anreize für eine längere Lebensarbeitszeit zu schaffen. Doch das setzt eine Rentenreform voraus, vor der die Regierung zurückschreckt.
Kanzler Friedrich Merz versprach nach der Klausur, das Reformtempo zu erhöhen und Deutschland international wieder „an die Spitze“ zu führen. Dank des Sondervermögens für die Infrastruktur und die Aufrüstung der Bundeswehr wird die Wirtschaft im kommenden Jahr zwar anspringen.
Doch damit ist es nicht getan. Es wird ein trügerischer, weil teuer erkaufter Aufschwung. Die Investitionen sind notwendig, aber sie stellen für sich genommen ebenso wenig eine Wirtschaftswende dar wie der auf der Kabinettsklausur verabschiedete Aktionsplan für einen modernen Staat.
Mittelfristig trauen führende Wirtschaftsforscher dem Land nur noch ein Mini-Wachstum von 0,2 Prozent zu. Diese alarmierende Zahl, Ausdruck der neuen Eurosklerose, sollte im Zentrum aller wirtschaftspolitischen Debatten stehen.






Doch die Gefahr ist groß, dass das Krisenbewusstsein schon bald von den Meldungen des staatlich stimulierten Wachstums verdrängt wird – und der ohnehin gehemmte Reformeifer der Bummelkoalitionäre weiter nachlässt, je näher die nächste Bundestagswahl rückt.






