Kommentar: Wir leiden an einer Autoimmunerkrankung gegen alles Gute


Friedrich Merz hat zum Tag der Deutschen Einheit in Saarbrücken eine bemerkenswerte Rede gehalten, die so viel Zuversicht und Aufbruchsstimmung verströmte wie lange kein Wortbeitrag eines deutschen Spitzenpolitikers. Und was passiert? Schon wieder wird das Kleingeld gezählt: „Ruckel-Rede“, „Mutlosigkeit“, „kein Schröder-Moment“. Anstatt den Impuls aufzugreifen, die Perspektive zu weiten und endlich die Debatte nach vorn zu richten, verlieren sich die Kritiker im Abwinken. Es wirkt fast so, als hätte Deutschland eine Autoimmunerkrankung gegen alles Gute.
Dabei hätte Deutschland gerade jetzt mehr Lust auf Zukunft verdient als diese ermüdende Lust am Kleinreden. Anstatt die Chance zum Neustart zu ergreifen, melden sich die Realitätsverweigerer zu Wort. Doch wer so argumentiert, vergisst drei entscheidende Punkte.
Erstens: Der Kanzler regiert nicht allein. Er ist eingebunden in eine Koalition, deren größter Partner – die SPD – sich zunehmend nach links orientiert. Für Merz bedeutet das, ständig um die Mitte kämpfen zu müssen. Schon kleine Kurskorrekturen, etwa in der Rentenpolitik, stoßen auf Widerstände aus den eigenen Reihen.
Zweitens: Bürger wie Unternehmen brauchen Geduld. Die Reform von Renten- und Gesundheitssystem, der Umbau des Sozialstaats – all das sind Mammutaufgaben, die in den vergangenen zwanzig Jahren von Angela Merkel und Olaf Scholz versäumt wurden. Das lässt sich nicht in vier Monaten erledigen.
Und drittens: Die Weltlage fordert ihren Preis. Trump, Putin, Israel – internationale Krisen absorbieren politische Energie und Zeit. Jetzt kommen auch noch Drohnen über Deutschland hinzu. Der Tag der Politiker hat auch nur 24 Stunden.
Das mag angesichts der wirtschaftlichen Stagnation zwar frustrierend sein, doch immerhin gibt es erste konkrete Schritte und Entscheidungen. Mit dem 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen wurde ein finanzielles Fundament gelegt, das in seiner Dimension historisch ist. Steuerliche Sonderabschreibungen sollen Investitionen ankurbeln, die bei der jüngsten Kabinettsklausur beschlossene Modernisierungsagenda setzt zusätzliche Impulse.
Die Industrie hat eine eigene Investitionsinitiative mit „Made for Germany“ gestartet. Sie will zum Standort Deutschland stehen, was nicht hoch genug einzuschätzen ist. Wann hat es das zuletzt gegeben? Mit dem früheren Commerzbank-Chef Martin Blessing gibt es einen erfahrenen Banker, der als Investitionsbeauftragter eingesetzt wurde.
Der Vorwurf gegen die Koalition, vieles davon stehe „nur auf dem Papier“, überzeugt nach 120 Tagen Amtszeit nicht. Die Beschlüsse in Papierform sind der erste notwendige Schritt, ohne den keine Reform Realität wird. Entscheidend ist, dass die Koalition diesmal tatsächlich fest entschlossen ist, Ankündigungen in Handeln zu übersetzen. Wenn SPD-Chef Lars Klingbeil an die Reformen von Gerhard Schröder erinnert, sollte das aufhorchen lassen.
Es ist doch keine Frage, dass die politischen Baustellen unübersehbar sind. Deutschland ist eine blockierte Republik. Der Staatsdienst wächst ungebremst, während die Privatwirtschaft stagniert. Der Föderalismus sorgt dafür, dass sich Bund, Länder und Kommunen gegenseitig den Weg versperren. Ein Beispiel: die Digitalisierung der Schulen. Der Bund stellt Milliarden bereit, die Länder streiten über Zuständigkeiten, am Ende warten Eltern und Kinder. Ähnlich im Gesundheitswesen: Jeder Minister kündigt Reformen an, doch wenn Kassenärztliche Vereinigungen, Länder und Krankenkassen widersprechen, verliert sich der Elan in endlosen Kompromissen.
Merz und Reiche haben einen ordnungspolitischen Kompass
Auch auf europäischer Ebene stockt der Fortschritt. Die Bürokratie der EU wie beim Lieferkettengesetz läuft unbeirrt weiter, als gebe es keine Wirtschaftskrise. Unternehmen klagen über zusätzliche Berichtspflichten, statt dringend benötigte Entlastungen zu erhalten. Gleichzeitig bleibt der deutsche Sozialstaat ein unübersichtliches Geflecht von rund 500 Einzelleistungen, verteilt auf sechs Ministerien. Verwaltung, die Bürgern helfen soll, wird so zum Labyrinth.
Doch aller Schwierigkeiten zum Trotz: Merz hat einen Punkt getroffen, wenn er wie in Saarbrücken sagt, die Deutschen sollten sich nicht von Ängsten lähmen lassen. „Wagen wir einen neuen Aufbruch.“

Er und Wirtschaftsministerin Katherina Reiche haben all die Defizite benannt – immer wieder. Sie müssen ihren wirtschaftspolitischen Kompass nicht jeden Morgen neu ausrichten. Noch sind es viele Ankündigungen, die wir aber in dieser eindeutigen Form aus Berlin lange nicht mehr gehört haben.






Bayerns Ministerpräsident Markus Söder hat die Koalition als „letzte Patrone“ im Kampf gegen die Feinde der Demokratie bezeichnet. Ein drastisches Bild, aber es trifft einen wunden Punkt: Wenn Union und SPD die Erwartungen nicht erfüllen, profitieren nur die Ränder – allen voran die AfD.
Druck von Bürgern und Wirtschaft ist nötig. Aber permanentes Herunterreden lähmt jede Reform. Wer glaubt, mit Ungeduld und Schuldzuweisungen lasse sich das Land voranbringen, verkennt die Lage.
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