Morning Briefing: Biden und Putin im Rededuell
Guten Morgen, sehr geehrte Leserinnen und Leser,
gemeinhin geht man ja davon aus, dass sich faschistische Regime besonders gut auf eindrucksvolle Inszenierungen verstehen, während die Demokratie oft mit dem Pathos eines Aktendeckels daherkommt. Gestern war es umgekehrt.
Mit wenigen Stunden Abstand lieferten Wladimir Putin in Moskau und Joe Biden in Warschau ihre Deutung zum ersten Jahrestag des russischen Angriffskriegs. Der russische Präsident verliest seine knapp zweistündige Ansprache in nüchternem Tonfall vor geladenen Gästen auf Stuhlreihen. Er attackiert den Westen, spricht über Zuschüsse für Wohnungsrenovierungen, Schulbau und Gasanschlüsse. Und hebt sich den einen bemerkenswerten Satz fast bis zum Schluss auf: „Russland setzt mit dem heutigen Tag seine Teilnahme am New-Start-Vertrag aus.“
Im Tonfall eines Unterbezirkskassierers kündigt Putin damit faktisch das letzte noch bestehende Atomrüstungsabkommen mit den USA.
Und der US-Präsident? Der tritt am späten Nachmittag unter freiem Himmel vor dem Warschauer Königsschloss vor Tausenden von Zuschauern auf die Bühne. Riesige Flaggen der USA, Polens und der Ukraine schmücken die Seite des Platzes. Scheinwerferbatterien schicken über Biden einen Strahlenkranz in den dunklen Himmel. Eine zwanzigminütige Inszenierung der Stärke. Dazu passt Bidens Botschaft: „Es gibt kein süßeres Wort als Freiheit. Es gibt kein edleres Ziel als Freiheit. Es gibt keine größere Hoffnung als Freiheit.“
Zurück zum Alltag, in dem uns heute ein Nebeneffekt des Ukrainekriegs beschäftigt: Nach Handelsblatt-Informationen will der Vorstand des Chemiekonzerns BASF am Freitag die Stilllegung eines Teils seiner Ammoniak-Produktion in Ludwigshafen bekanntgeben. BASF betreibt dort bisher zwei Ammoniak-Anlagen, die im vergangenen Jahr bereits zeitweise heruntergefahren wurden. Aufgrund der extrem hohen Gaspreise waren sie nicht mehr rentabel. Die ältere der beiden Anlagen will der Konzern nach Informationen aus Unternehmenskreisen nicht wieder in Betrieb nehmen. Die Entwicklung der Ammoniak-Synthese Anfang des vergangenen Jahrhunderts gehörte zu den großen Pionierleistungen der BASF.
Ein bereits angekündigtes Sparprogramm könnte bei BASF den Abbau von bis zu 5000 Arbeitsplätzen mit sich bringen. Davon dürfte der größte Anteil auf das Werk in Ludwigshafen entfallen, wo der Konzern derzeit rund 39.000 Personen beschäftigt – rund ein Drittel der weltweiten Belegschaft.
Sanierungslaune auch bei Fresenius: Der Dax-notierte Gesundheitskonzern teilte am Abend mit, dass er die Bindung zur angeschlagenen Dialysetochter Fresenius Medical Care (FMC) lockern will. FMC, ebenfalls Teil des Dax 40, soll in eine normale Aktiengesellschaft umgewandelt werden. Derzeit kontrolliert Fresenius die Tochterfirma über die Struktur einer Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA), hält aber nur rund 32 Prozent der FMC-Aktien. Durch die Dekonsolidierung müsste Fresenius FMC nicht mehr vollständig in die eigene Bilanz aufnehmen. Die Beteiligung an FMC will Fresenius nach eigenem Bekunden aber erst einmal behalten.
Fresenius hat gestern auch die jüngsten Geschäftszahlen vorgelegt. Die belegen, dass FMC 2022 erneut eine Belastung für die Bilanz des Mutterkonzerns darstellte. Währungseffekte eingerechnet wuchs der Umsatz von Fresenius um neun Prozent auf 40,8 Milliarden Euro, das Konzernergebnis sank um sieben Prozent auf 1,73 Milliarden Euro.
Die deutschen Autohersteller kommen mit ihren Elektroautos in China bislang auf keine grüne Bambussprosse. Lokale Marken und auch der US-Hersteller Tesla verkaufen deutlich mehr batteriebetriebene Fahrzeuge als die deutschen Konzerne. Die Hauptargumente gegen Stromer Made in Germany: zu teuer, zu wenig interaktiv.
Das ganze Ausmaß des Problems zeigen Versicherungsdaten aus China, die das Handelsblatt einsehen konnte. Demnach kam Volkswagen im vergangenen Jahr bei rein elektrischen Fahrzeugen auf einen Marktanteil von 2,4 Prozent. BMW scheiterte mit 0,8 Prozent an der Ein-Prozent-Hürde, Mercedes mit 0,3 und Audi sogar mit 0,1 Prozent. Da jeder Kfz-Besitzer in China eine staatliche Pflichtversicherung abschließen muss, gelten die Daten als präzise.
Für die deutschen Hersteller ist das ein Alarmzeichen: Sie sind auf den chinesischen Markt angewiesen. Hier verkaufen sie mehr als ein Drittel ihrer Fahrzeuge weltweit, ein Fünftel der Verbrenner-Neuzulassungen in China entfällt auf Autos der deutschen Hersteller. Gleichzeitig wächst der Anteil elektrischer Pkw in China rasant. Branchenpionier Tesla verkauft allein vom Model Y in China mehr Einheiten als die deutschen Autohersteller mit all ihren Elektromodellen insgesamt.
Der Kölner Übersetzungsdienst DeepL ist das jüngste Einhorn aus Deutschland. Anfang des Jahres sammelte das Start-up frisches Geld ein und wird seither von Investoren mit mehr als einer Milliarde Euro bewertet. Wer aber stößt als Nächstes in die zehnstellige Bewertungssphäre vor?
Die Plattform Tech Tour, ein Zusammenschluss führender europäischer Kapitalgeber, hat eine Liste der 50 am schnellsten wachsenden wagniskapitalfinanzierten Technologieunternehmen in Europa erstellt, die bereits mit mehr als 100 Millionen Euro bewertet werden und das Potenzial haben, künftig zum Einhorn zu werden – also eine Bewertung von mehr als einer Milliarde Euro zu erreichen.
Elf der Einhorn-Kandidaten kommen aus Deutschland (siehe Grafik), ebenfalls elf aus Frankreich und neun aus Großbritannien.
Wegen der Zinswende und unsicheren Konjunkturaussichten zögern allerdings derzeit viele Wagniskapitalgeber, frisches Geld in Start-ups zu stecken. Falk Müller-Veerse, Vorsitzender des Tech-Tour-Auswahlgremiums und Partner der Investmentbank Bryan, Garnier & Co., ist sich dennoch sicher: „Alle 50 Unternehmen haben das Potenzial für eine Bewertung von einer Milliarde Euro.“
Wir schließen mit der drittgrößten britischen Supermarktkette Asda, die den Traum von Millionen Kindern wahr gemacht hat: In den Asda-Filialen gibt es frisches Obst und Gemüse nur noch in rationierten Mengen, pro Einkauf etwa nur noch maximal drei Tomaten, Paprika oder Brokkoli. Ursache ist nicht etwa ein Lobbyerfolg der bislang unbekannten Interessengruppe „Youth Against Vitamins”, sondern laut Nachrichtenagentur Bloomberg schlicht fehlender Nachschub bei Obst- und Gemüseimporten.
Ich wünsche Ihnen einen knackigen Tag mit unbegrenzten Genüssen.






Herzliche Grüße
Ihr Christian Rickens
Textchef Handelsblatt





