Corona-Folgen Warum weniger ausländische Studenten zum Problem für die deutsche Wirtschaft werden

Wegen der Corona-Pandemie bleiben die Hörsäle weitgehend leer, Studierende aus dem Ausland kommen immer seltener nach Deutschland.
Berlin Die Rechnung ist vergleichsweise simpel. Je weniger Studenten aus dem Ausland nach Deutschland kommen, desto weniger Fachkräfte stehen der Wirtschaft hierzulande am Ende zur Verfügung. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) ist dementsprechend besorgt – vor allem mit Blick auf die Coronakrise: „Der Fachkräfteengpass droht durch die Pandemie noch größer zu werden“, warnt IW-Bildungsexperte Axel Plünnecke.
Anlass sind die neuesten Hochschulzahlen des Statistischen Bundesamts: Danach haben im Corona-Jahr 2020 nur noch 99.000 Ausländer ein Studium in Deutschland begonnen. Das ist ein Einbruch um rund ein Fünftel, im Vorjahr waren es noch 125.000.
Besonders bedeutsam ist dabei laut IW das Ausbleiben der ausländischen Studenten für die Fachbereiche Ingenieurwissenschaften und Informatik. Denn aus diesen Fächern entwickeln sich die Experten für die wichtigsten Wirtschaftszweige. Hier seien „fast ein Drittel aller Studienanfänger Ausländer“, sagt Plünnecke.
Die aktuellen Hochschulzahlen sind deshalb ein bedeutendes Warnsignal. Zumal der Einschnitt zugleich den langjährigen Trend nach oben bricht: Seit 2013 liegt die Zahl der ausländischen Erstsemester bei über 100.000, und sie wuchs von Jahr zu Jahr. 2019, also vor Corona, waren 9,4 Prozent der Hochschulabsolventen Zuwanderer, die erst zum Studium hierhergekommen waren – in den Ingenieurwissenschaften und der Informatik sogar gut 14 Prozent. Bei den Studienanfängern insgesamt waren es 22 Prozent, in Ingenieurwissenschaften und Informatik sogar 29 Prozent.
Zwar wählten 2020 erneut die meisten Erstsemester aus dem Ausland – rund 37.000 – ein Ingenieurstudium, dazu kamen noch mehr als 10.000 Studierende der Mathematik und Naturwissenschaften. Doch das waren 17 beziehungsweise zwölf Prozent weniger als im Vorjahr.
Viele Inder in den „Mint“-Fächern
Die Zahlen seien „alarmierend“, warnt IW-Experte Plünnecke. „Denn viele der zugewanderten Studenten bleiben nach ihrem Abschluss in Deutschland.“ Früheren Studien und aktuellen Schätzungen zufolge sind es fast 50 Prozent.
Besonders stark hatte sich vor der Pandemie beispielsweise der Zuzug von Indern in den für die deutsche Wirtschaft so entscheidenden und zugleich besonders von Knappheit betroffenen Mint-Berufen (Mathe, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) entwickelt: Ende 2012 arbeiteten hierzulande 3800 Inder in akademischen Mint-Berufen, Ende 2020 waren es schon 17.800. Die Zahl der Inder, die in Deutschland ein Mint-Studium abschließen, stieg seit 2010 von 600 auf 3300.
Das sei auch deshalb erfreulich, weil in Ländern wie Indien die Bevölkerung noch immer wachse, so der IW-Experte. Damit sei die Wahrscheinlichkeit, dass Fachkräfte in ihre Heimat zurückkehrten, deutlich geringer als etwa bei Akademikern aus Ländern in Ost- oder Südeuropa, die selbst ein Demografieproblem haben, sind sich Demografieexperten einig.
Es sei auch ein schwacher Trost, dass parallel zum Einbruch der Zahl der ausländischen die der deutschen Erstsemester etwas gestiegen sei. Denn da sich in der Pandemie die Studienbedingungen sehr verschlechtert hätten und viele wegen fehlender Nebenjobs in finanzielle Engpässe gerieten, seien hier mehr Studienabbrüche zu erwarten, meint Plünnecke.
Dazu kämen die Probleme an den Schulen, die nach Prognose diverser Bildungsforscher zu einem Wissenseinbruch und damit auch zur Schwächung der Mint-Kompetenzen führen würden. Unterm Strich „senken die geringere Zuwanderung über die Hochschulen und die Schulschließungen langfristig die Mint-Qualifikationen in Deutschland“, resümiert Plünnecke. „Herausforderungen wie die Digitalisierung und der Kampf gegen den Klimawandel jedoch sind umso schwieriger zu lösen, wenn die entsprechenden Fachkräfte fehlen.“
Wenig Frauen in Zukunftsberufen
Ähnlich besorgt ist das Nationale Mint-Forum (NMF), ein auf Initiative der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) sowie der Arbeitgeber und des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) gegründeter Zusammenschluss vor allem wirtschaftsnaher Organisationen zur Förderung der Mint-Bildung.
„Die Zahlen bestätigen unsere Sorge, dass wir noch lange nicht genug für die Mint-Bildung tun. Sie zeigen nur die Spitze des Eisbergs, denn auch der Mint-Fachkräftemangel wird eher noch größer, die Beteiligung von Mädchen und jungen Frauen an Mint-Berufen ist nach wie vor viel zu niedrig, und bei den internationalen Schülertests Pisa und TIMSS liegen wir weiterhin nur im Mittelfeld“, sagte NMF-Sprecherin Edith Wolf.
„Die Politik muss jetzt endlich handeln“ fordert ihr Co-Sprecher Ekkehard Winter. Der Mint-Aktionsplan der Bundesregierung sei zwar ein guter erster Schritt, „reicht aber bei Weitem nicht aus“.
Nach der Wahl dürfe die Bundesregierung das Thema nicht länger nur dem Bildungsministerium überlassen, sondern sie müsse sich über alle einschlägigen Ministerien endlich strategisch um die Mint-Förderung kümmern – gemeinsam mit Ländern und Kommunen. Und das Bildungssystem „muss sich öffnen und mit Zivilgesellschaft und Wirtschaft zusammenarbeiten“.
Das „Mint-Aktionsprogramm 2.0“ des NMF, das dem Handelsblatt vorliegt, fordert ein Bündel an Aktivitäten gegen die „immer größer werdende Mint-Fachkräftelücke, insbesondere im Elektro- und IT-Bereich, die nach wie vor viel zu geringe Beteiligung von Mädchen und Frauen an diesen zukunftsträchtigen Berufen und den dramatischen Mangel an Mint-Lehrkräften“.
Vor allem schwächeren biodeutschen und Migrationsfamilien müssten die großen Chancen der Mint-Berufe viel besser aufgezeigt werden, in denen gute Gehälter und Aufstiegschancen locken und nicht ganz perfekte Deutschkenntnisse eine geringere Rolle spielen als in anderen Fächern. Dazu müssten aber vor allem in den Schulen die Mint-Berufe fester Bestandteil der Berufsorientierung werden. Daneben gelte es, die in Deutschland im internationalen Vergleich viel zu kleine Gruppe der Spitzentalente in Mint-Fächern besser zu fördern.
Stiefmütterliche Lehrkraftausbildung
Eine ideale Chance, beides zu realisieren, bietet nach Überzeugung des Mint-Forums die Ganztags-Grundschule, für die es ab 2025 einen Rechtsanspruch geben soll. Dann könne man dort auch die vielen außerschulischen Mint-Angebote viel besser integrieren. Ideal sei „eine bundeslandübergreifende einheitliche Strategie für ein qualitativ hochwertiges Bildungsangebot“, fordern die Mint-Vorkämpfer.
Im Kampf gegen den massiven Lehrermangel müssten die Hochschulen der Lehrkräfteausbildung, die mitunter stiefmütterlich behandelt wird, insgesamt einen deutlich höheren Stellenwert geben und durch mehr Förderung und Fachdidaktik die Abbrecherquoten vor allem in den Mint-Fächern senken.
Um mehr Seiteneinsteiger anzuziehen, sollten künftig auch solche mit nur einem Mint-Fach für den Schuldienst zugelassen werden. Damit sie in der Schule erfolgreich arbeiten könnten, müsse dort „der Einsatz von multiprofessionellen Teams zum Normalfall werden“. Und schließlich brauche es in den Schulen der Republik schnell auch Technikerinnen und Techniker, Educational Technologists und Kooperationsverantwortliche für den Mint-Bereich.
Mehr: Bundesregierung stellt 700 Millionen Euro für Ausbildungsförderung bereit
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.