Tarifbindung, Strukturwandel, Energiewende: Was der DGB-Chef von der nächsten Regierung erwartet
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GewerkschaftenTarifbindung, Strukturwandel, Energiewende: Was DGB-Chef Hoffmann von der nächsten Regierung erwartet
Auf seiner Sommertour wird der DGB-Chef mit den Baustellen der Arbeitswelt konfrontiert. Hoffmann fordert eine klare Industriestrategie – und geißelt die Tarifflucht von Unternehmen.
Bad Lippspringe, Duisburg, Rheda-Wiedenbrück Der Himmel über Ostwestfalen meint es gut mit den Streikenden, er ist wolkenverhangen, aber es fällt kein Regen. Also machen die Beschäftigten des Medizinischen Zentrums für Gesundheit (MZG) – fast alles Frauen – mächtig Lärm vor dem Rathaus von Bad Lippspringe: „Her mit TVÖD, wir wollen ihn im MZG!“
Das Gesundheitszentrum, zu 90 Prozent in kommunaler Trägerschaft, hat seit den 1990er-Jahren nur noch einen Haustarifvertrag – aus Spargründen. Jetzt wollen die Beschäftigten, die hier unter anderem Long-Covid-Patienten versorgen, zurück in den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes, der ihnen im Schnitt 8000 Euro mehr im Jahr bringen würde.
Der Geschäftsführer habe Streikenden teils per Bote eine Aufforderung zustellen lassen, zur Arbeit zu kommen, berichtet Therapeutin Christa Tenhagen, die seit 1990 in dem Betrieb arbeitet. Aber die Beschäftigten wollen sich auch durch Druck nicht einschüchtern lassen.
Es ist ein Termin ganz nach dem Geschmack von Reiner Hoffmann. Der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) ist auf Sommertour in Nordrhein-Westfalen und versichert den Protestierenden, die mit Corona-Abstand zwischen Rathaus und Würstchenbude stehen, seine Solidarität: „Die Tarifbindung in diesem Land muss deutlich gestärkt werden“, ruft er.
Und der „Volkssport“ der Unternehmer, Betriebsratswahlen zu verhindern und Betriebsratsarbeit zu erschweren, müsse endlich ein Ende haben. Die MZG-Beschäftigten werden immerhin noch nach Haustarif bezahlt. Aber für 47 Prozent der Arbeitnehmer im Westen und 57 Prozent im Osten gilt heute gar kein Tarifvertrag mehr.
Klare Erwartungen an die nächste Regierung
Der DGB hat deshalb klare Erwartungen an die nächste Bundesregierung: Tarifverträge müssen leichter für allgemein verbindlich erklärt werden können und der Bund soll nur noch Aufträge an Firmen vergeben, die nach Tarif zahlen.
Bei Thyssen-Krupp Steel in Duisburg, wo noch rund 13.500 Beschäftigte arbeiten, ist der Tarif nicht das Problem. Hier wird die Mitbestimmung noch hochgehalten. Es geht vielmehr um ganz existenzielle Fragen.
Welche Zukunft die Industrie im Allgemeinen und die Stahlindustrie im Besonderen in Deutschland noch hat. Und was am Ende wirklich aus dem „Modernisierungsjahrzehnt“ wird, das CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet verspricht.
Denn die Stahlindustrie soll klimaneutral werden – und Hoffmann kommt in einem historischen Moment nach Duisburg: Zum letzten Mal wird in einem konventionellen Hochofen die feuerfeste Ausmauerung erneuert. 2025 soll die erste Anlage in Betrieb gehen, die statt mit klimaschädlichem Koks mit Wasserstoff arbeitet, vier Jahre später dann die zweite.
Drei Millionen Tonnen klimafreundlichen Stahl will das Unternehmen bis 2030 produzieren und so sechs Millionen Tonnen Kohlendioxid einsparen. „Wir haben die Technologie, um CO2 komplett wegzunehmen“, sagt Tekin Nasikkol, Gesamtbetriebsratschef bei Thyssen-Krupp Steel Europe. Der Haken: Es werde unglaublich teuer.
Sieben bis acht Milliarden Euro zusätzliche Investitionen seien auf dem Weg zur Klimaneutralität erforderlich, erläutert Vorstandssprecher Bernhard Osburg. Doch das Unternehmen tappt im Dunkeln.
Wie Stahl grün werden soll
Arcelor-Mittal, der größte Stahlkocher der Welt, hat sich ein konkretes Ziel gesetzt: Bereits im Jahr 2021 will der Konzern 120.000 Tonnen CO2-freien Stahl an die Kunden bringen. Ein Jahr später soll sich die Menge verfünffachen. Dabei setzt das Unternehmen auch auf die Bilanzierungsmethode: Im ersten Schritt wird dabei nicht die gesamte Stahlproduktion selbst dekarbonisiert, sondern es werden lediglich verschiedene Teileinsparungen auf die Gesamtproduktion umgerechnet. Das bedeutet, je stärker die Emissionen im Durchschnitt sinken, desto mehr Stahl kann Arcelor-Mittal als grün deklarieren.
Der britisch-niederländische Stahlkonzern Tata Steel verfolgt verschiedene Wege, um seine CO2-Emissionen zu senken. Der wichtigste: Das CO2 wird in seinen Prozessen so weit wie möglich reduziert, um es dann abzufangen. Anschließend soll das Gas unterirdisch gelagert werden. Vor allem die Niederlande, aber auch Länder wie Norwegen verfügen über leere Gasfelder in der Nordsee, die sich dafür eignen. Der Vorteil: Die Prozesse ließen sich weitgehend beibehalten, ohne dass CO2 in die Atmosphäre gelangt. Ab spätestens 2027 will Tata so klimaneutralen Stahl in Europa anbieten. Dabei geht es etwa um rund ein Drittel der eigenen Produktion.
Wasserstoff ist der teuerste und aufwendigste Weg, die Stahlproduktion zu dekarbonisieren. Langfristig wird wohl kein Hersteller darum herumkommen, seine Prozesse entsprechend umzustellen. Die Frage ist, wann das passiert. Mit ersten Versuchsprojekten beschäftigt sich fast die gesamte Branche, allerdings eher in kleinem Maßstab. Vorn dabei ist der schwedische Hersteller SSAB, der ab 2026 wasserstoffbasierten Stahl in großen Mengen anbieten will.
Die Bundesregierung hat zwar ehrgeizige Klimaziele formuliert. Woher aber möglichst „grün“ erzeugter Wasserstoff in großen Mengen kommen und wie er auf das Werksgelände von Thyssen-Krupp gelangen soll, steht noch in den Sternen.
Zehn Milliarden Euro schwerer Transformationsfonds
Personalvorstand Markus Grolms erwartet deshalb von der neuen Bundesregierung, dass sie innerhalb von 100 Tagen nach der Wahl klare Rahmenbedingungen für den klimafreundlichen Umbau der Industrie formuliert. Bisher sei noch an keiner der offenen Fragen ein Haken dran.
Die IG Metall fordert einen zehn Milliarden Euro schweren Transformationsfonds und den Aufbau von zehn Gigawatt (GW) Elektrolysekapazität zur Wasserstoffproduktion bis 2030. Derzeit liegt die Kapazität für „grünen“, also mit regenerativen Energien erzeugten Wasserstoff bei 0,1 GW. „Industriepolitik muss in diesem Lande großgeschrieben werden“, fordert Hoffmann.
Denn sonst stehen bei Thyssen-Krupp Steel mehr als die 4000 Arbeitsplätze auf dem Spiel, die ohnehin abgebaut werden sollen. Die Pläne für die Neuausrichtung liegen in der Schublade. Doch bevor das Unternehmen die Investitionsentscheidung treffen kann, müssen die Rahmenbedingungen klar sein.
Während Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertretung bei Thyssen-Krupp in Duisburg an einem Strang ziehen, um die Zukunft zu gestalten, ist man gut 130 Kilometer nordöstlich froh, ein schlimmes Kapitel Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben.
Hier in Rheda-Wiedenbrück liegt der Tönnies-Schlachthof, der 2020 mit einem Corona-Ausbruch Schlagzeilen machte. Nachdem die Pandemie ein Schlaglicht auf die oft skandalösen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie geworfen hatte, verabschiedete die Bundesregierung im Eiltempo das Arbeitsschutzkontrollgesetz.
Weniger Willkür bei Bezahlung und Arbeitszeiterfassung?
Fleischbetriebe haben mittlerweile viele Beschäftige aus Ost- und Südosteuropa, die früher über die im Kerngeschäft der Branche inzwischen verbotenen Werkverträge bei ihnen arbeiteten, übernommen.
Es gebe jetzt bei der Bezahlung oder der Arbeitszeiterfassung „nicht mehr ganz so viel Willkür“, sagt Anna Szot, die für das inzwischen zu 90 Prozent vom Bund finanzierte DGB-Projekt „Faire Mobilität“ in Rheda-Wiedenbrück polnische Beschäftigte berät.
Doch Arbeiter berichten, dass immer noch die Umkleidezeit nicht bezahlt wird oder die Zeit für das Säubern der Arbeitsutensilien von der Pause abgeht. Auch haben die aus den Werkverträgen übernommenen Arbeiter oft nur befristete Verträge bekommen, was ihre Lebensplanung weiter schwierig macht.
Bei Problemen kann es vorkommen, dass Beschäftigte an die neue „Integrationsbeauftragte“ verwiesen werden, die sich dann als Schwester eines früheren Subunternehmers entpuppt. Für DGB-Chef Hoffmann ist deshalb klar, dass das Arbeitsschutzkontrollgesetz allenfalls ein erster Schritt auf dem Weg zu fairer Arbeit über Grenzen hinweg sein kann: „Zu glauben, damit wäre die Welt in Ordnung, ist naiv.“
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