Interview EU-Außenpolitiker David McAllister zu Afghanistan-Desaster: „In der Nato muss jetzt Klartext gesprochen werden“

„Das Vorgehen der Amerikaner habe ich für problematisch gehalten.“
David McAllister, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, plädiert angesichts der Lage in Afghanistan dafür, Ortskräfte außer Landes zu bringen. „Ich erwarte, dass unsere Staatengemeinschaft Verantwortung für die Schutzbedürftigen übernimmt“, sagte er im Handelsblatt-Interview.
„Die Evakuierung von Menschen, die das Land verlassen müssen, hat absolute Priorität. Deshalb sollten wir Europäer uns zusammen mit den transatlantischen Partnern dafür einsetzen, die Luftbrücken so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.“
Eine Flüchtlingskrise wie 2015 sollte vermieden werden, indem die Nachbarländer Afghanistans bei der Versorgung von Flüchtlingen unterstützt werden. „Die EU-Kommission muss jetzt umgehend aktiv werden“, so der CDU-Politiker. Inwiefern man diplomatische Beziehungen zu den Taliban aufbauen sollte, um vor Ort weiterhin Einfluss zu haben, hänge „maßgeblich vom weiteren Vorgehen der Taliban ab“.
Aus der folgenreichen Entscheidung der US-Amerikaner, sich übereilt aus Afghanistan zurückzuziehen, müssten die übrigen Nato-Partner zudem eine Lehre ziehen. „Wenn wir gemeinsam in einen Einsatz hineingehen, müssen wir auch als Alliierte gemeinsam entscheiden, wie ein Einsatz beendet werden soll.“
Lesen Sie hier das ganze Interview:
Herr McAllister, Was hat der Afghanistan-Einsatz gebracht? Wohl nichts, wie man gerade sieht.
Was momentan in Afghanistan passiert, ist ein politisches und humanitäres Desaster. Es geht jetzt darum, Menschenleben zu retten. Aber natürlich muss der ganze Einsatz gründlich analysiert werden. Es muss Klartext gesprochen werden, welche Konsequenzen wir für die Zukunft daraus ziehen müssen. Zumal sich in Afghanistan eine neue Situation ergeben hat, auf die wir Europäer und der gesamte Westen nun reagieren müssen.
Dennoch bleibt die Frage: War dieser ganze Einsatz ein Fehler?
Das Ziel des Einsatzes war damals, die terroristische Gefahr vom 11. September zu bekämpfen. Das ist gelungen. Al-Qaida wurde gestoppt. Es ging um Terrorabwehr!
Dass unsere jahrelangen Bemühungen, Afghanistan dabei zu unterstützen stabile und demokratische Institutionen aufzubauen, nun doch vergeblich waren, ist bedrückend. Die afghanische Armee war offenkundig nicht in der Lage, sich gegen die Taliban zu verteidigen. Auch darüber muss in der Nato Klartext gesprochen werden.
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Laut Lageeinschätzung war es klar, dass die Taliban irgendwann das Land wieder übernehmen. Warum wundert es dann, dass sich die afghanische Armee beinahe kampflos ergeben hat? Warum sollten die Streitkräfte für ein paar Wochen Verzögerung ihr Leben riskieren?
Es war eine amerikanische Entscheidung, Afghanistan so zügig zu verlassen. Dieser Vorentscheidung der größten und stärksten Nato-Kraft sind die übrigen Verbündeten gefolgt. Das Vorgehen der Amerikaner habe ich für problematisch gehalten, solange keine einigermaßen verlässlichen Verhandlungsergebnisse mit den Taliban in Doha erzielt wurden. Diese übereilte Entscheidung und der vollständige Abzug der Nato-Truppen haben neue Unsicherheiten in ein ohnehin instabiles Land gebracht. Die innerafghanischen Friedensgespräche haben gestockt, die Sicherheitslage war nach wie vor prekär. Es bestand von Anfang an die Gefahr, dass die Taliban diese schwierige Situation für sich nutzen werden.

Die Taliban wussten die fragliche staatliche Situation nach dem Truppenabzug gut für sich zu nutzen.
Warum ist es den Europäern nicht gelungen, Einfluss auf die amerikanische Afghanistan-Strategie nehmen?
Die Entscheidung hatte Präsident Trump getroffen, und im Gegensatz zu vielen anderen seiner Entscheidungen hat Präsident Biden diese nicht revidiert und sogar einen konkreten Abzugstermin benannt. Daraus müssen wir innerhalb der Nato eine Lehre ziehen: Wenn wir gemeinsam in einen Einsatz hineingehen, müssen wir auch als Alliierte gemeinsam entscheiden, wann und wie ein Einsatz beendet werden soll.
Was muss die EU nun tun?
Es geht jetzt um die Sicherheit unserer Staatsangehörigen vor Ort und ebenso um die afghanischen Bediensteten, die für unser Militär, die Botschaften, auch für die EU-Delegation in Kabul, tätig waren. Das Gleiche gilt auch für Menschen, die für von uns unterstützte NGOs und andere Institutionen gearbeitet haben. Die Evakuierung dieser Menschen hat absolute Priorität. Deshalb sollten wir Europäer uns zusammen mit den transatlantischen Partnern dafür einsetzen, die Luftbrücke so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.
Und danach?
Schwer vorherzusagen. Ob überhaupt und wenn ja künftig Entwicklungsgelder nach Afghanistan fließen, hängt entscheidend davon ab, wie sich die Taliban-Regierung verhalten wird.
Es droht auch eine neue Flüchtlingswelle.
Die EU-Kommission muss jetzt umgehend aktiv werden, um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden. Es geht darum, die Nachbarländer Afghanistans zu unterstützen, die von Migrationsbewegungen betroffen sein werden, also Pakistan, Iran, Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan. Es liegt jetzt auch an uns, eine weitere Migrationskrise zu verhindern.

„Die EU-Kommission muss jetzt umgehend aktiv werden, um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden“, fordert McAllister.
Wie soll das konkret geschehen?
Wir müssen dringend alle Organisationen, die humanitäre Hilfe rund um Afghanistan leisten, unterstützen und mit ihnen zusammenarbeiten. Wenn wir die Notlage vor Ort eindämmen wollen, und Menschen aus Afghanistan Schutz bieten wollen, dann müssen wir eben auch mit den Regierungen in Teheran und Islamabad sprechen. Das wird schwierig. Aber es wird nötig sein.
Ist es denkbar, dass die EU mit Teheran ein Flüchtlingsabkommen schließt, ähnlich dem EU-Türkei-Deal? Oder den EU-Türkei-Deal auf afghanische Flüchtlinge ausweitet?
Es geht jetzt darum, aus den Fehlern von 2015 zu lernen. Damals waren die Staaten des Westens nicht bereit, das Flüchtlingshilfswerk UNHCR und anderen internationalen Organisationen die erforderliche Unterstützung zu geben. Essensrationen mussten deswegen gekürzt werden. Daraufhin haben sich die Menschen auf den Weg in Richtung Europa gemacht. Nun müssen wir schnell und unbürokratisch humanitäre Hilfe leisten. Wer aus Afghanistan über die Grenze flüchtet, soll erst einmal in Sicherheit sein. Das muss ein Anliegen der gesamten internationalen Gemeinschaft sein, nicht nur der Europäer.
Ende Juni wurde der Antrag der Grünen, Ortskräfte zu evakuieren, im Bundestag abgelehnt. War das ein Fehler?
Es ist immer schwierig, im Nachhinein solche Fragen zu beurteilen. Die Frage wäre gewesen: Wenn man schon frühzeitig die Bediensteten abgezogen hätte, welches Signal hätte man ausgesendet? Dass man selbst nicht an den Erfolg der afghanischen Regierung glaubt.
Wie groß ist die Gefahr, dass die Türkei sich entgegen europäischer Interessen verhält?
Die Türkei verfolgt nicht immer die gleichen Interessen und Ziele wie andere Nato-Partner. Das war so, das ist so. In der jetzigen Situation ist es entscheidend, dass wir als Nato einen strategischen Ansatz entwickeln, wie wir denn mittel- und langfristig mit der neuen Situation in Afghanistan umgehen wollen. Denn eines ist klar: Afghanistan darf nicht zu einem sicheren Hafen für den international operierenden Terrorismus werden. Daran hat auch die Türkei kein Interesse.
Sollten die Europäer mit den Taliban diplomatische Beziehungen aufnehmen? Die Chinesen haben sich der Sache ja schon angenommen.
Ob der Westen mit den Taliban diplomatisch zusammenarbeiten kann, und wenn ja wie, hängt maßgeblich vom weiteren Vorgehen der Taliban ab.

China bemüht sich bereits um gute Beziehungen zu den Taliban.
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