HRI-Konjunkturprognose Post-Corona-Boom fällt aus: Die nächste Regierung hat einen schwierigen Weg zurück zur Normalität

Das HRI bleibt bei seiner gesamtwirtschaftlichen Einschätzung mit 2,7 Prozent Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr und einer Belebung auf 3,7 Prozent für das Jahr 2022.
Düsseldorf Die nächste Bundesregierung wird unter wesentlich schwierigeren Bedingungen ihre Arbeit aufnehmen als die amtierende Große Koalition. Zwar dürfte die Wirtschaft dieses Jahr ähnlich stark wie 2017 wachsen, und auch die Arbeitslosigkeit wird voraussichtlich lediglich um knapp 100.000 Personen höher sein, als dies zu Beginn dieser Legislatur der Fall war.
Doch anstatt wie die amtierende Regierung Überschüsse von gut 40 Milliarden Euro zur Verfügung zu haben, wird die neue das zweithöchste Haushaltsdefizit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erleben.
Unabhängig von ihrer Zusammensetzung wird die neue Koalition also Wege suchen müssen, das aktuelle Loch von rund 150 Milliarden Euro im Staatskonto mit der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse in Einklang zu bringen – sei es durch Sparen, durch Steuererhöhungen oder durch eine Reform der Schuldenbremse, die allerdings von Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden müsste.
Finanzielle Spielräume, mit denen bei früheren Koalitionsverhandlungen Differenzen kaschiert werden konnten, sind nicht vorhanden – auch weil der von manchen prognostizierte Post-Corona-Boom der vierten Pandemiewelle zum Opfer fallen dürfte.
Die Vorhersagen vieler Wirtschaftsforscher, ein ähnlicher Boom wie im Vorjahr werde ein rasches Ende aller staatlichen Stützungsmaßnahen ermöglichen, bewahrheitete sich laut Statistischem Bundesamt nämlich nicht. Im Gegenteil: Nach einem Rückgang der Wirtschaftsleistung im ersten Quartal 2021 um 2,0 Prozent und Wachstum von 1,6 Prozent im zweiten Quartal war das Bruttoinlandsprodukt (BIP) am Ende des ersten Halbjahrs sogar niedriger als zum Jahresstart.
Was die Wirtschaft bremst
Damit bestätigten sich die Erwartungen, die das Handelsblatt Research Institute (HRI) bereits zu Beginn dieses Jahres geäußert hatte, während die Mehrheit der Konjunkturforscher damals noch einen Boom prognostiziert hatte und diese Erwartungen sukzessive anpassen musste.
Als zusätzliche gesamtwirtschaftliche Bremse erwiesen sich Materialengpässe, die zu deutlichen Preissteigerungen und langen Wartezeiten etwa im Handwerk und auf dem Bau führten. Ferner fehlen insbesondere in der Autoindustrie Computerchips, sodass die hohe Nachfrage nach Neuwagen nicht voll bedient werden kann. In einigen Werken wird deshalb wieder kurzgearbeitet.
Das HRI bleibt daher bei seiner gesamtwirtschaftlichen Einschätzung mit 2,7 Prozent Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr und einer Belebung auf 3,7 Prozent für das Jahr 2022. Diese Prognose beruht auf der Erwartung, dass Corona-Pandemie und Lieferengpässe die Erholung zunächst weiter bremsen werden; ein Boomquartal wie im Sommer 2020 mit neun Prozent Wachstum wird es dieses Jahr nicht geben.
Gleichwohl dürfte sich die konjunkturelle Lage allmählich normalisieren. Marktmechanismen werden die Knappheit bei Vorprodukten beheben, da die Unternehmen ihre Beschaffungsstrategien und Lieferketten entsprechend justieren werden. Zudem lernt Deutschland, mit dem Coronavirus zu leben, sodass die Einschränkungen weiter zurückgefahren werden.
Die anziehende Nachfrage sowie höhere Kosten für Rohstoffe und Vorprodukte haben die Verbraucherpreise in den vergangenen Monaten kräftig steigen lassen. Erstmals seit Einführung des Euros dürfte die Inflationsrate in Deutschland im Jahresschnitt auf über drei Prozent steigen – auch wegen der Rücknahme der Mehrwertsteuersenkung, der neuen CO2-Abgabe und der Verdopplung des Ölpreises.
Keine Pleitewelle erkennbar
Im kommenden Jahr dürften die Preise zwar weiter anziehen, jedoch verlangsamt sich die Teuerungsrate, wenn die Basiseffekte auslaufen. Im Jahresmittel 2022 wird die Inflationsrate daher zwei Prozent betragen und damit auf dem von der Europäischen Zentralbank (EZB) für den Euro-Raum angestrebten Niveau liegen.
Trotz der seit Mai wieder geltenden Insolvenzantragspflicht ist keine Pleitewelle erkennbar. Daher halten sich die Pandemiefolgen für den Arbeitsmarkt in Grenzen. Nach einem Corona-bedingten Anstieg um rund 600.000 zwischen April und Juni 2020 geht seit vergangenem Sommer die Arbeitslosenzahl kontinuierlich zurück, allein in den vergangen drei Monaten um 186.000 Personen.
Mittlerweile klagen viele Unternehmen bereits wieder über Arbeitskräftemangel, nicht zuletzt in jenen Branchen, die im Frühjahr 2020 ihre (Aushilfs-)Kräfte entließen. Ein Großteil des ehemaligen Gastronomiepersonals hat mittlerweile in anderen Branchen einen Arbeitsplatz gefunden.
Da die Einkommenserwartungen der Verbraucher stabil sind und sich die in der Pandemie deutlich gestiegene Sparquote normalisiert, wird die private Nachfrage angeschoben und vor allem 2022 zum Wachstumstreiber werden.
Der Staatskonsum wird 2022 hingegen sinken, wenn auch nur leicht. Grund ist das Auslaufen von Corona-Hilfen und Maßnahmen zum Gesundheitsschutz, wie etwa den kostenlosen Massentests. Zudem wird es einige Monate dauern, bis die nächste Bundesregierung in den Arbeitsmodus übergeht und möglicherweise neue, den Staatskonsum erhöhende Projekte anschieben kann.
Der Außenhandel legt weiter dynamisch zu und wird erstmals seit 2010 wieder zweistellige Zuwachsraten bei Ex- und Importen aufweisen. Bei aller Rivalität zwischen den USA und China scheinen beide Seiten derzeit kein Interesse an einer neuen Eskalation der Handelsstreitigkeiten zu haben.
Deutschland, als eine der größten Handelsnationen der Welt, profitiert traditionell stark von einem anziehenden Welthandel. So wird der Außenhandel im laufenden Jahr erstmals seit sieben Jahren mit 0,5 Prozentpunkten wieder einen nennenswerten Beitrag zum Wachstum der deutschen Ökonomie beisteuern. Dieser Wachstumsbeitrag dürfte sich 2022 sogar noch leicht vergrößern.
Die Bruttoanlageinvestitionen ziehen ebenfalls an, wachsen allerdings weniger dynamisch als in der Boomphase 2016/17. Möglicherweise spielen dabei Unsicherheiten über die Zusammensetzung der nächsten Regierung eine Rolle.
Staat kann nicht ganz aus der Pflicht genommen werden
Womöglich fürchten viele Unternehmen mit Blick auf manch Wahlprogramm höhere Steuerbelastungen, während andere Unternehmen, etwa in der Umwelt- und Energietechnik, auf neue Subventionen nach der Regierungsbildung hoffen und daher Projekte vorerst zurückstellen.
Alle für eine Regierung infrage kommenden Parteien haben sich zu dem Ziel bekannt, Deutschland binnen wenigen Dekaden zu dekarbonisieren. Dies wird nur mit hohen Investitionen möglich sein, die freilich zum größten Teil privat finanziert sein müssen.
Ganz aus der Pflicht genommen werden kann der Staat aber nicht. Zum einen muss er verlässliche und anreizkonforme Rahmenbedingungen für Investoren setzen. Zum anderen gilt es, Grundlagenforschung zu unterstützen, den dringend nötigen Netzausbau voranzutreiben und die Steuer- und Abgabenbelastung auf Strom zu senken.
All dies kostet Geld – das dem Staat jedoch fehlt. Denn zur Bewältigung der Pandemie und zur Abfederung der Rezessionsfolgen wendete der Staat ungefähr doppelt so hohe Mittel auf wie während der Finanzkrise 2008/09.
Trotz mancher Fehler im Detail sind die beherzten Rettungsaktionen des Staates und der EZB als Erfolg zu werten; im Schlussquartal 2021 wird die deutsche Wirtschaftsleistung auf Quartalsbasis wieder Vorkrisenniveau erreichen. In diesem Fall wäre die Erholungsphase zwei bis drei Quartale kürzer als nach der Finanzkrise gewesen.
Gesamtwirtschaftliche Schäden sind immens
Gleichwohl sind die gesamtwirtschaftlichen Schäden immens; Deutschland fehlen dauerhaft acht Quartale Trendwachstum und die daraus erwarteten Steuer- und Beitragseinnahmen. Neue goldene 20er-Jahre wird es aller Voraussicht nach nicht geben.
Vielmehr steht die neue Regierung vor der Aufgabe, unverkennbare Defizite in der digitalen Infrastruktur und der Digitalisierung des Staates zügig aufzuholen, den gleichzeitigen Ausstieg aus der Atom- und Kohlestromproduktion zu bewältigen sowie die ökonomischen und sozialen Folgen des bald einsetzenden Alterungsschubs abzufedern.
Gleichzeitig gilt es, Deutschland attraktiver für Investoren und qualifizierte Arbeitskräfte aus aller Welt zu machen. Zudem darf den bisherigen Vorzeigebrachen – Auto, Chemie, Elektro und Maschinenbau – nicht durch Überregulierung die Luft zum Atmen genommen werden, wenn sie konkurrenzfähig gegenüber den erstarkten Wettbewerbern aus Asien bleiben sollen.
Trotz Widerständen von manch einer Parteibasis wird die neue Regierung daher nicht darum herumkommen, die Angebotsbedingungen zu verbessern. Schließlich ist Wachstum die beste Geldmaschine.
Ein Prozent zusätzliches BIP beschert dem Staat knapp 15 Milliarden Euro zusätzliche Steuer- und Beitragseinnahmen – und zwar dauerhaft. Die entscheidenden Faktoren für das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft sind das Angebot von Arbeit und Kapital, das nicht zuletzt vom Steuer- und Abgabensystem beeinflusst wird.
Welche Reformen der Wirtschaft helfen würden
Massive Beitragssatzsprünge in den Sozialsystemen können nur verhindert werden, wenn die knapper werdenden Gelder zielgerichteter eingesetzt werden. Eine Unternehmensteuerreform mit günstigeren Abschreibungsbedingungen und einer moderaten Steuersatzsenkung würde helfen, das für die Modernisierung Deutschlands notwendige private Kapital zu mobilisieren.
Eine große Einkommensteuerreform dürfte am Geld scheitern. Denkbar wären mehrere, womöglich nicht fest terminierte Reformstufen. Gut möglich, dass zudem der Regelsatz der Mehrwertsteuer erhöht wird, um mit den Einnahmen gezielt im Wahlkampf versprochene Klimaschutz- und Sozialprojekte finanzieren zu können. Im Gegensatz zu höheren Unternehmensteuern dämpft eine Mehrwertsteuererhöhung das Wachstum vergleichsweise wenig.
Solch ein Reformpaket hätte das Zeug dazu, der deutschen Volkswirtschaft auf einen höheren Wachstumspfad zu verhelfen. Nur wenn dies gelingt, können die Wohlstandsverluste, die die Corona-Rezession verursacht hat, perspektivisch wieder aufgeholt werden.
Mehr: Warum die Bundesregierung kaum Einfluss auf die Inflation hat
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