Bally Foundation: Kunstreise in eine Welt am Wasser

Kurz hinter der Villa Favorita liegt die Villa Heleneum im Villenvorort Castagnola. Wer mit dem Boot anreist, schreitet die Marmorstufen vom Wasser zur Grotte und zur Villa hoch.
Lugano. Wie in Venedig kann sich der Kunstfreund in Lugano jetzt per Boot zur Kunst begeben. Kurz hinter der Villa Favorita, die einst Hans Heinrich von Thyssen-Bornemisza zu einem Hotspot für die Kunst machte, liegt die Villa Heleneum im Villenvorort Castagnola. Marmorstufen führen vom Wasser zur Grotte und zur palastartigen Villa mitsamt ihrem öffentlichen Garten.
Aber hier blickt die Besucherin schon nicht mehr auf die geschäftige Stadt Lugano wie in der Villa Favorita. Hier entdeckt man vis-à-vis statt der Tessiner Bauwut auf seeseitigen Hängen ungezähmte Natur, schroffe Felsen und die Schönheit schimmernden Wassers.
Die Lage der zwischen 1930 und 1934 im Auftrag der Tänzerin und Mäzenin Hélène Bieber errichteten Villa ist schlicht berückend. Der neoklassizistische Bau beherbergte ein Museum für Südsee-Kunst bevor die 2006 gegründete Bally Foundation sie 2021 zu ihrem ersten Stammsitz machte.
Und nun überrascht die bislang vor allem Tessiner Künstlerinnen und Künstler fördernde Stiftung der Modemarke mit einem Paukenschlag. „Un Lac Inconnu“ heißt die beziehungsreich zusammengestellte Kunstausstellung. Mit ihr möchte die Stiftungsdirektorin Vittoria Matarrese die Foundation auf der Landkarte internationaler Kunstreisender verankern.
Wenn alle Wechselausstellungen so gehaltvoll bleiben wie der Auftakt, dann wird die bis vor kurzen im Pariser Palais de Tokyo kuratierende Chefin ihr Ziel erreichen. Ausgangspunkt von Matarreses Debüts in Lugano sind Wasser, Natur und wie beide in unser Unterbewusstsein spielen.
In dem einstündigen Videofilm „Sunken Cities“ nimmt uns die litauische Künstlerin und Freiwasser-Schwimmerin Emilija Škarnulytė mit in die Bucht von Neapel. Dort taucht sie als nordische Sagenfigur Undine - als Nixe mit Fischschwanz - über Tempeln, Mosaiken und Kolonaden aus dem versunkenen, antiken Badeort Baia. Die Kamera filmt die Nixe von oben. Schönheit, Zeitlichkeit aber auch die Sorge um die Zukunft des Planeten verdichtet Škarnulytė zu packenden Bildern vom Wasser, das verdeckt, aber auch bewahrt.

Wie ein antiker Chor beschwören vier Sängerinnen und ein Sänger mit nichts als Vokalen innere Welten. Sie stehen hinter Skulpturen aus Blei und Aluminium mit schwebenden Masken, aus denen – Tränen gleich – Stoffe zu Boden fließen.
„Seit Mitte der 1970er-Jahre beschäftigt sich Haim Steinbach mit dem Unterschied zwischen Sehen und Betrachten,“ erzählt Vittoria Matarrese beim Rundgang. Wir stehen im zentralen unteren Salon vor dem Breitwandfenster: darauf in Lettern der Satz „Close your eyes“. „In einer Kunstausstellung und vor diesem überwältigenden See-Panorama wirkt der Satz absurd.“ Doch es gehe dem in New York arbeitenden Israeli um das andere Sehen. „Um den Blick ins eigene Innere“, sagt Matarrese. Da kommen Gefühle ins Spiel, angenehme und weniger angenehme.
Der Rundgang zu 22 mit Acryl oder Lidschattenpuder gemalten Gemälden, mit Faden gestickten Bildern, Nixen-Skulpturen von Vito Acconci, Soundstücken und Installationen ist abwechslungsreich. Die kuratierende Direktorin vermeidet die Langeweile, die durch zu viel ausgestellte, immer gleiche Szene-Künstler aufkommen kann.
Verzicht auf eine Corporate Collection
Ungewöhnlich ist es, Auftragsarbeiten für eine Ausstellung zu vergeben, hier gleich mehrere für den Garten. Ungewöhnlich ist auch, dass die Modemarke Bally keine wiedererkennbaren Kunstwerke vom Marktstars ankauft. Statt eine Sammlung zu pflegen, zahlt sie laut NZZ aktuell jährlich 120.000 Schweizer Franken Miete an die Stadt Lugano und setzt auf ein breit gefächertes Kulturprogramm in der Villa Heleneum.
In ihrem Verzicht auf eine repräsentative Corporate Collection bei gleichzeitiger Präsenz durch Ausstellungen, Performances und Veranstaltungen erinnert die Bally Foundation an die Kunsthalle Kai 10 am Düsseldorfer Hafen. Auch in Düsseldorf möchte die initiierende Unternehmerin und Sammlerin Monika Schnetkamp nicht die Schützlinge aus ihrer Privatsammlung gefeiert wissen. Ihre Arthena Art Foundation unterstützt seit 2008 junge Kunst, in dem sie Relevantes sichtbar macht und in Kontexte stellen lässt.

Die litauische Künstlerin und Freiwasser-Schwimmerin taucht als nordische Sagenfigur Undine - als Nixe mit Fischschwanz - über Tempeln, Mosaiken und Kolonaden aus dem versunkenen antiken Badeort Baia.
Innovation und Kreativität sei die DNA von Bally, sagt Nicolas Girotto, seit 2019 CEO der 1851 gegründeten Schuh-Manufaktur. Er hat die Marke wiederbelebt, lässt 450.000 Paar Schuhe in der Schweiz und Italien fertigen. Zum Umsatz des zurückliegenden Jahres will er sich nicht äußern. Doch Ballys Nachhaltigkeitsreport gibt für 2021 einen Umsatz von 272,7 Millionen Euro an, etwas weniger als vor der Pandemie.
Zurück zur Ausstellung: Das Innen und das Außen verbindet auch eine um den Atem kreisende Installation der Australierin Mel O’Callaghan. Drei muschelartig schimmernde, „dielektrische“ Glaskörper reflektieren und verformen die See-Umgebung und das Licht, wenn der Besucher sie betritt. Doch einmal im Monat atmen sich vier Performer in „Respire, Respire“ angeleitet von der Wissenschaftlerin Sabine Rittner in Trance. Dann erfahren die Zuschauer etwas von den Grundlagen allen Lebens, von erweiterten Bewusstseinszuständen, Ekstase oder Halluzination.

Villa nah am Wasser gebaut
Eine Villa, die so nah am Wasser gebaut ist, kommt nicht ohne Tränen aus. Adélaïde Feriot schafft Skulpturen aus Blei und Aluminium: Aus ihren schwebenden Masken fließen – Tränen gleich – Stoffe zu Boden. Wenn dann aber zusätzlich in einer Performance vier Sängerinnen und ein Sänger hinter den Masken nichts als Vokale singen, lässt das niemanden kalt. Beschwören diese Profis wie ein antiker Chor ausgehend von Licht und See mit Rhythmen innere Welten, dann geht Besucherinnen und Besucher das Herz auf.
„Un Lac Inconnu/Ein unbekannter See“: bis 24. September 2023 in der Villa Heleneum Lugano, Via Cortivo 24. Kein Katalog. Geöffnet: Mi bis Sa 13:30 bis 19:00 Uhr, So 11:30 bis 17 Uhr. Der Park und das Sockelgeschoss sind öffentlich und ohne Eintritt zugänglich. Für die erste Etage werden 12 Sfr. Ticketpreis berechnet. Es gibt keine Parkplätze. Der Bus 2 fährt vom Bahnhof bis „San Domenico Castagnola“. Performances finden an 4. Juni, 15. Juli und 23. September statt.





