Markus Lüpertz: „Der Künstler ist kein Mensch“

„Ein Künstler hat vom lieben Gott das Talent bekommen, und er hat den Auftrag übernommen, Kunst zu machen.“
Düsseldorf. Der Besuch in Markus Lüpertz’ Atelier in der Düsseldorfer Kunstgießerei Schmäke kommt nach langer Vorbereitung ganz spontan zustande – innerhalb von zwei Stunden. Die Gussexperten ringsherum machen bei ihren Arbeiten einen Höllenlärm, aber das stört den Künstler nicht im Geringsten. So bilderreich und wortmächtig, wie Lüpertz Gedichte schreibt, so verblüffend sind seine Urteile. Handys und iPads, die ganze Digitalisierung, lehnt er strikt ab, seine Termine lässt er sich von der Galerie Breckner arrangieren. Lüpertz gibt lieber „Frau und Hund“ heraus, die „Zeitschrift für kursives Denken“, in der unter anderem Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder und die Kunstsammlerin Gabriele Henkel zu Wort kommen. Heute aber spricht er. Konzentriert nimmt er am Brotzeittisch der Gießerei-Mitarbeiter Platz.
Herr Lüpertz, Unternehmer, die Künstler um Rat fragen, schauen gern darauf, wie der Künstler eine Krise meistert. Wie gehen Sie mit Krisen um?
Was ist eine Krise? Ich hatte noch nie eine schöpferische Krise, und Lebenskrisen sind belanglos. Damit muss jeder fertig werden. Natürlich klappt mal schöpferisch etwas nicht. Aber dann wird so lange daran gearbeitet, bis es funktioniert.
74 Jahre alt und nie eine Schaffenskrise gehabt?
Im Gegenteil, ich habe zu viel im Kopf. Malen ist wie Blumen gießen. Einmal vergessen, stirbt die Blume. Man muss immer dranbleiben. Könnte ich nicht mehr dranbleiben, dann hätte ich eine Krise. Große Maler sind Berufskünstler. Wir sind krisenfest.
Was aber, wenn der Galerist dem Künstler den Laufpass gibt? Das wäre eine Krise.
Nein, dann hat er einen dummen Galeristen und sucht sich einen neuen. Ein guter Galerist treibt den Künstler an und ist ein Gesprächspartner darüber, wie man große Kunst macht. Was bei mir im Leben schiefging, ist privater Natur. Damit muss jeder fertig werden.
Und die private Krise darf dann nicht auf das Werk durchschlagen?
Nicht bei Berufskünstlern. Wenn ich das Ganze mit meinem Leben vermische, werde ich anfällig. Ein Künstler hat vom lieben Gott das Talent bekommen, und er hat damit den Auftrag übernommen, Kunst zu machen. Nichts darf diesen See trüben. Sie müssen davon besessen sein. Wenn Sie Krisen zulassen, sind Sie als Künstler schwach.
Wir hatten die Vorstellung, dass beim Künstler Leben und Werk eng verwoben seien...
Der Künstler ist kein Mensch. Er ist ein Künstler, das ist etwas anderes. Er lebt anders, verhält sich anders.
Sie haben mehrere Ateliers, eines in Berlin. Ist die Hauptstadt ein Schrittmacher für die Kunst?
Ich bin seit 1960 Berliner. Je länger ich dort wohne, je mehr werfe ich der Stadt Folgendes vor: Im kulturellen Bereich ist sie oberflächlich auf Fashion und Hipness ausgerichtet, sie hat zu wenig Tiefe und Kraft. So etwas kommt nur von außen herein. Nach Berlin wird reingepumpt, weil die Stadt sich selbst nicht ernährt. Mein Freund Klaus Wowereit hat das sehr schön gesagt: „Arm, aber sexy.“ Das ist zur Unterhaltung köstlich. Ich möchte woanders nicht leben. Die Stadt hat aber noch nicht begriffen, wie sie existieren kann.
Aber es ziehen viele internationale Künstler nach Berlin.
Internationale Kunst ist so wie internationale Küche. Das hat keine Bedeutung. Die Wiener Küche kann nicht internationalisiert werden. Sie kann nur international bekannt werden. Das Internationale ist kein Kriterium. Ein Künstler aus New York ist interessant, einer aus Castrop-Rauxel nicht, auch wenn er vielleicht viel besser ist.
Das glauben wir nicht. Die Wiener Küche ist ja mit kleineren Knödeln und etwas Zitronengras auch leicht modernisiert worden.
Verräter gibt es überall. Das Geheimnis der bildenden Kunst ist, dass sie das Nationale international lesbar macht.
Alles ist global – und Sie betonen das Nationale! Könnte die Wirtschaft von der Kunst lernen und auch das Nationale lesbar machen?
Nicht nur die Wirtschaft, die ganze Gesellschaft soll von der Kunst lernen, bessere Menschen zu werden, auf dass sie einsichtiger, toleranter, großzügiger werden. Denn die Kunst hat diese Werte in sich. Die bildende Kunst wird darüber begriffen, dass sie großartig ist. Wenn Sie etwas Großartiges akzeptieren können, können Sie auch andere Meinungen akzeptieren, Sie bekommen eine andere Sicht. Das muss jeder von der Kunst lernen. Denn die Kunst ist nicht politisch, nicht pädagogisch, sondern historisch.
In der Wirtschaft setzen alle auf die gleichen Trends: Big Data zum Beispiel und die Digitalisierung. Die Kunst ist individuell. Lässt sich das von der Kunst lernen?
Kann man Individualität lernen?
Man kann ein Vorbild sein.
Das ist die Kunst. Sie lebt von der Individualität. Es gibt in der bildenden Kunst nichts Neues, nur Individuelles von Leuten, die etwas Eigenes eingebracht haben. Sie müssen das Rad nicht neu erfinden. Aber schön machen. Kunst und Wirtschaft haben nichts miteinander zu tun. Es geht darum, dass beides existiert. Das Freiwillige, Großzügige, Demokratische, das sich Selbst-Erobern, wirtschaftlich oder künstlerisch, das ist das Entscheidende. Sie müssen gebildete Menschen haben, die nicht durch digitalen Mist und Handys verblöden.
Warum verblöden?
Schauen Sie sich das Deutsch in der Handykommunikation von Kindern an! Wir haben ein Bildungs- und ein ästhetisches Problem. Haben Sie gesehen, wie die Leute im Sommer rumlaufen? Dreiviertelhosen und T-Shirts über dem dicken Ranzen, aber ein Handy in der Hand.
Wie entstehen Ihre Werke?
Aus dem unvollendeten Letzten. Es muss einen Anlass geben weiterzumalen. Das ist eine nicht abreißende Kette.
Wann ist ein Bild fertig?
Das entscheidet man nicht, das weiß man. Manchmal malt man so lange an einem Bild, bis es sich selbst zerstört. Fertig ist es, wenn die Unfähigkeit der Vollendung perfekt formuliert ist.
Wie viel Scheitern braucht das Gelingen?
Das ist der Luxus der Kunst: dass wir uns auf höchstem Niveau das Scheitern leisten können. Unsere ganze Kultur ist eine gescheiterte Kultur. Wir haben das Ideal des Torsos, die Vollendung im Unvollendeten. Jedes große Kunstwerk in Europa ist melancholisch oder anarchistisch. Es ist der Zwang, die Vollendung zu suchen, die man nicht erreicht.
Haben Sie Angst vor der Vollendung?
Nein. Ich habe Angst, dass mir nicht genug Zeit gegeben ist, daran zu arbeiten.
Haben Sie, Herr Lüpertz, eine Epoche geprägt?
Davon bin ich fest überzeugt. Eine Epoche können Sie aber nicht allein prägen. Aber wir, meine Künstlerfreunde und ich, haben Geschichte gemacht und machen sie noch.

Lüpertz im August 2005 im Gespräch mit dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder.
Sie wirken darüber hinaus in anderen Bereichen, sind nicht nur Maler, sondern spielen Jazz, schreiben Bücher – das erinnert an Sänger wie Udo Lindenberg, der malt ja inzwischen auch.
Mein Freund Udo – wenn ich seine Ausstellungen eröffne, sage ich immer: Udo, lass das mit dem Malen. Er kontert: Lass das mit der Musik. Ich möchte in einer künstlerischen Atmosphäre leben. Die Philosophen werden mir zu sozialpädagogisch. Dichtung ist nur noch Pädagogik oder Politik. Ich will dagegen eine andere Dimension erreichen, poetisch und emotional.
Ist Ihr Spazierstock auch eine Form der Inszenierung?
Nein. Ich will nur nicht mit einer Krücke aus dem Sanitätsladen herumlaufen.
Muss sich ein Künstler als Marke präsentieren?
Früher sagte mein Vater immer zu mir: Du bist mir vielleicht ’ne Marke. Ich bin ein neugieriger, kommunikativer Typ. Da ich immer unter einer gewissen Aggression gelitten habe, muss ich meine Aggressionen befrieden. Deshalb bin ich besonders nett, mache viel Sport, arbeite mich physisch aus.
Woher kommt die Wut?
Man ist eben doch nicht Gott oder ein Engel.
Haben Sie von sich ein bestimmtes Profil entworfen mit Maßanzug, Maßschuhen und Einstecktuch?
Eines Tages habe ich angefangen, mich zu erfinden. Bist du ein Genie? Ja! Bist du ein schöner, intelligenter Mann? Ja! Bist du großzügig? Ja! Bist du geizig? Nein. Das arbeite ich mit Fleiß ab.

Lüpertz bemalt auf dem Gelände der ehemaligen Zeche Nordstern in Gelsenkirchen seine Herkules-Skulptur.
Ihr Profil wirkt wie von einem Marketingstrategen erdacht.
Im Resultat wirkt das in der Presse negativ. Die Leute sind gegen mich, behaupten, ich sei brutal, bösartig, ich wäre arrogant und elegant angezogen. Aber warum sollte ein älterer Herr nicht elegant angezogen sein? Dass das erwähnenswert ist, finde ich albern.
Sie haben fünf Kinder. Was haben Sie Ihrer Tochter Anna Jill mitgegeben, die Galeristin in Berlin ist?
Anna ist in der Kunstszene groß geworden. Hat darin ihre Profession gefunden. Raten kann ich ihr nichts, weil sie eine andere Zeit vertritt. Ich bemühe mich, ihr Liebe, Zuneigung und eine gewisse Sicherheit zu geben.
Wie viel Nähe lassen Sie bei Sammlern zu?
Das ist mein großer Fehler. Ich bin schnell mit den Sammlern befreundet. Das ist oft schlecht. Sie verhalten sich dann wie Kumpels und werden leichtsinniger im Umgang. Ich kann aber nur mit Freunden leben. Wirtschaftlich ist das falsch. Sie verlieren für den Sammler das Mysterium. Die meisten Menschen nehmen es mir übel, wenn ich verschwenderisch bin.
Haben Sie Verständnis dafür, wenn Politiker national wichtige Kunst im Land behalten wollen?
Es ist zweischneidig. Grundsätzlich ist das nicht Aufgabe der Politiker, sondern der einheimischen Sammler. Wenn die Sammler in Deutschland diese Kunst nicht selbst im Land behalten, dann geht sie eben ins Ausland. Die Politik kann nicht das Geschäft stören mit dem Vorwand, das müsse im Lande bleiben.
Wenn etwas in einer Privatsammlung ist, ist es aber der Öffentlichkeit meist entzogen.
Wissen Sie, wie viel in Museen im Keller verschwindet? Kunst ist eine Frage der Begeisterung der Bevölkerung, nicht der Politik. Bildet die Leute, begeistert sie für Kunst, dann bleibt das auch im Land.
Auf der einen Seite ist Kunst Anlageobjekt, auf der anderen Seite werden Museen dichtgemacht, weil die Leute nicht mehr kommen.
Die bildende Kunst ist das erfolgreichste Geschäft der letzten 50 Jahre. Keine Aktie ist mit der bildenden Kunst zu vergleichen. Trotzdem strömen die Leute nicht ins Museum, um sich Kunst anzugucken. Schauen Sie mal, was alles gemacht wird, damit die Menschen ins Museum gehen. Allein die schrecklichen Museumsnächte! Das ist doch Disco mit Dekoration. Es fehlt die Bildung. Und das führt zum Beispiel zu Ausländerfeindlichkeit.
Haben solche Themen Einfluss auf Ihr Werk?
Nein. Aber so fürchterliche Fotos wie von dem Jungen, der tot am Strand liegt, oder den 71 im Kühltransporter Erstickten – schon möglich, dass das Eingang findet. So, wie ich im Kosovo-Krieg „Dubrovnik brennt“ gemalt habe. Das ist nicht der Plan, aber es ist denkbar. Wenn ich mir vorstelle, wer den Tod im Transporter zu verantworten hat, kriege ich Angst. Wo leben wir?
Kann Kunst in unfreien Ländern entstehen?
Das kommt auf die Definition von Freiheit an. Die Geschichte hat gelehrt, dass Kunst nur da existiert, wo Geld ist. Wo viel Geld über ist, sind Künstler und Sammler, entwickeln sich Kunst und Kultur. Kunst lebt vom Geld. Kunst muss finanziert werden.
Kommt aus China spannende Kunst?
Ich weiß nicht, was spannende Kunst ist. Es gibt nur Kunst.
Teilen Ihre Kinder Ihre Werte?
Nicht in allem. Aber sie wissen, dass das Wichtigste in all unseren Verbindungen die Kunst ist. Dass die Kunst an erster Stelle steht.

Sind Ihre Kinder auch Künstler?
Nein, ein Genie in der Familie reicht.
Herr Lüpertz, vielen Dank für das Interview.
Zur Person: Markus Lüpertz
1941 in Liberec geboren, flieht Markus Lüpertz 1948 mit seiner Familie von Böhmen ins Rheinland. Nach kurzen Zwischenstopps im Bergbau und der Fremdenlegion ist der Maler 1962 Mitgründer der legendären Selbsthilfegalerie Großgörschen 35. Seine neoexpressiven Gemälde werden von Privatsammlern und Museen angekauft. Ab 1973 ist er Professor, von 1988 bis 2009 Rektor der Kunstakademie Düsseldorf.
Werk (Auswahl seiner Skulpturen): „Die Philosophin“ vor dem Bundeskanzleramt in Berlin; „Adler“ im Bundesgerichtshof in Karlsruhe; „Hommage an Mozart“ in Salzburg; „Apoll“ für Bamberg; „Herkules“ für die ehemalige Zeche Nordstern in Gelsenkirchen.








