Sammlung Andrew und Christine Hall Schloss Derneburg: Wie aus einem Denkmal ein Hotspot für Kunst wird

Die Skulpturengruppe begrüßt die Besucher vor Schloss Derneburg, das einst dem erfolgreichen Künstler gehörte.
Derneburg Die Museumslandschaft Deutschlands muss neu kartografiert werden. Die Gravitationskräfte haben sich verschoben. Ein Schloss in der niedersächsischen Tiefebene, in Derneburg, südlich von Hildesheim, ist dabei, sich zu einem strahlend neuen Anziehungspunkt zu verwandeln unter den Kunstmuseen für zeitgenössische Kunst.
Lange Jahre war das idyllisch gelegene Schloss in Derneburg ein hochgeschätzter Geheimtipp. Aktuelle Kunst und eine geradezu stillstehende Zeit trafen hier zusammen. Das Konzept dahinter ist anspruchsvoll. „Die Besucher sollen auf angenehme Art in ein Kunsterleben eintauchen können und dabei gleichzeitig eine kontemplative Begegnung mit Ausstellungen wirklich großer Kunst erleben, die eben nicht an die neuesten Moden und Agenden angepasst ist, sagt Andrew Hall.
Der ehemalige Rohstoffhändler ist Eigentümer und Haupt-Initiator des von seiner Stiftung getragenen Privatmuseums. Wenn die seit gut 15 Jahren laufende Restaurierung der opulenten Schlossanlage beendet ist - voraussichtlich in spätestens vier Jahren - soll aus dem Geheimtipp ein Magnet für Kunstreisende werden. Ein neuer Hotspot der zeitgenössischen Künste mit mehrfach im Jahr wechselnden Sonderausstellungen.
Die vergangenen Jahre haben schon einen verlockenden Vorgeschmack auf das Kommende gegeben. Aktuell werden die Themenausstellung „The Passion“ und mehrere Einzelausstellungen mit großformatigen farbenfrohen „Flower Paintings“ des Spaniers Jorge Galindo gezeigt, oder die fotografierten „Priests“ des amerikanischen Künstlers Sante D’Orazio. Der wurde ursprünglich durch seine Aufnahmen von Supermodels und Celebrities bekannt.
Die Ausstellungen speisen sich aus der rund 6000 Objekte umfassenden Privatsammlung des anglo-amerikanischen Ehepaars Christine und Andrew Hall. Beide zählen zu den weltweit wichtigsten Sammlern für zeitgenössische Kunst und rangieren in den internationalen Rankings regelmäßig unter den Top 200.

Das Paar stellt seine riesige Kunstsammlung in Vermont und in Niedersachsen aus.
Andrew Hall machte sein Vermögen als einer der erfolgreichsten Ölhändler überhaupt. Und an der Börse hat ihn sein geschicktes Händchen für das Spekulative auch nicht verlassen.
Schon früh begannen Christine und Andrew Hall Kunst zu kaufen. Einer ihrer Schwerpunkte: deutsche Kunst nach 1945. Sie besitzen aktuell die wohl umfangreichste Sammlung zur deutschen Nachkriegskunst in den USA. Der weitaus größere Schwerpunkt der Sammlung liegt allerdings bei amerikanischer Kunst. Oftmals kauften beide gleich ganze Konvolute.
Aber warum deutsche Kunst? Spekulationsaspekte weist Hall weit von sich: „Wir schätzen deutsche Kunst aus vielen – nicht finanziellen – Gründen.“ Aber auch weil sie, im Vergleich zu amerikanischer Kunst, noch günstig ist. Das ließ er die NZZ wissen.
So erwarben die Halls eine 120 Werke umfassende Sammlung, die vom Maler Georg Baselitz zusammengetragen wurde und jetzt ein Teil der Hall Art Foundation ist. Baselitz, der Berserker der figurativen Kunst, hatte sich ab 1974 zum Malen nach Derneburg zurückgezogen. Er kaufte dort ein marodes Schloss, das Atelier und Wohnsitz wurde. Ein Atelierneubau im Park kam hinzu.
Als treue Baselitz-Sammler kamen die Halls irgendwann auch nach Derneburg, um den zum Freund gewordenen Künstler zu besuchen. Der geschäftstüchtige Künstler offerierte den Halls sein Schloss als beste Location für deren Sammlung. Das gefiel den Amerikanern aus Vermont, auch wenn es ein wenig verrückt erschien.

Ausschnitt aus „When Heaven and Hell Change Places (7 day version)”
Sie kauften das Anwesen, ergänzten es mit Grundstückszukäufen, begannen zu renovieren, zu restaurieren, an- und umzubauen. Der Denkmalschutz hatte immer wieder durchaus berechtigte Einwände, dann fanden sich plötzlich unter einem Teil des Schlosses alte Grabanlagen, ständig kamen neue Probleme hinzu. Aber Hall entwickelte die Immobilie zielsicher weiter, motiviert durch ein hehres Anliegen: „Wir wollen ein Gesamtkunstwerk schaffen.“
Das Schloss wurde 1213 als Kloster für Augustiner-Chorfrauen-Stift angelegt. Es hat eine bewegte, typisch europäische Geschichte, die von Reformation und Gegenreformation, finanziellem Aufstieg und unaufhaltsamem Niedergang berichtet. Anfang des 19. Jahrhunderts gelangte die Anlage in den Besitz der Grafen zu Münster. Die wiederum ließen aus der Klosteranlage ein Schloss werden, der damals neuesten Mode entsprechend im historisierenden Stil der englischen Tudorgotik. Der Graf war in London aufgewachsen.
Mit dem ökonomischen Niedergang der Grafen Münster verfielen dann Schloss und Park. Das Land Niedersachsen erwarb das große Grundstück. Das vornehm verfallene Haus verkauften die Grafen für 300.000 D-Mark an Baselitz. Der wiederum gab es 2006 – es war die Rede von 2,6 Millionen Euro – an das Ehepaar Hall ab. Mit der Bemerkung, dass sie dann endlich genügend Platz für ihre große Sammlung hätten.
10.000 qm Ausstellungsfläche
So viel Geschichte ist nicht leicht zu restaurieren. Welcher Zustand soll wiederhergestellt werden? Es begann ein kontinuierliches Ringen der Halls mit der Vergangenheit und der Denkmalpflege.
Was Christine und Andrew Hall antrieb, war die Überzeugung, dass Schloss Derneburg nach der Renovierung „eines der größten öffentlich zugänglichen, privaten Museen Europas, wenn nicht der Welt sein wird“. Konkret meint Hall damit die dann 10.000 qm umfassende Ausstellungsfläche, die sich auf große Hallen, hohe und noch höhere Säle, großzügige Flure, ehemalige Scheunen und Empfangsräume, Vestibül und Kellerräume, Kabinette und Stallungen verteilen sollen.
Zu den bereits vorhandenen 96 Ausstellungsräumen kommen aktuell gerade weitere 16 dazu. Und dann zählt zum Ausstellungsareal auch noch der Park mit seinen 85.000 Quadratmetern.

Die gewaltigen Dimensionen des geschichtsträchtigen Ensembles erschließen sich erst aus der Vogelperspektive.
2017 waren die wichtigsten Umbauten geschafft, die ersten Ausstellungen konnten eröffnet werden. „Möchten Sie ein Glas Mineralwasser trinken?“ So aufmerksam wurden Besucherinnen und Besucher hier begrüßt. Wo gibt es einen ‚light lunch‘ als Unterbrechung einer Ausstellungsführung?
Schloss Derneburg wirkte wie ein Paradies für Bilder, aber eins nach dem Sündenfall. Der Eintritt hatte bis kurz vor der Pandemie bei 50 bis 75 Euro gelegen. Ausstellungen waren nur mit Führung zu besuchen.
Ein Hotel und Restaurant sind geplant
Bedingt durch die Hygiene-Regelungen der Pandemie, haben Halls ihr Konzept überdacht. Individuelles Schlendern durch die weitläufige Gartenanlage und das Schloss sind für geringes Eintrittsgeld möglich. Maximal 500 Besucher sind pro Tag erlaubt.
Derneburg, so der Wille des Ehepaares, soll aber nicht nur ein internationaler Besuchermagnet werden, sondern auch für die Forschung attraktiv sein. Hall plant eine Forschungsbibliothek mit über 50.000 Büchern, und, weil es fern der Stadt dazugehört, „ein Restaurant und ein Besucherzentrum und auch ein kleines Boutique-Hotel.“

Blick in die Eingangshalle von Schloss Derneburg
Den großen Park sollen viele Skulpturen bevölkern. Und womit lockt das Schloss? „Unser Ausstellungsprogramm wird neue Künstler und künstlerische Perspektiven vorstellen, aber auch international etablierte Künstler mit umfangreichen Ausstellungen zeigen. Die meisten Ausstellungen werden aus Werken unserer Sammlung bestehen. Wir werden aber auch Arbeiten zeigen, die direkt von Künstlern ausgeliehen werden.“ Das klingt wie eine Kampfansage an die großen, staatlich geförderten Ausstellungshäuser der Republik.
Ärger durch wild abgestellte Autos
Die Anwohner des Örtchens erfuhren von den großen Plänen erst aus der Presse. Sie fürchten wild parkende Autos und sich überall auftürmenden Müll. Die Ortsbürgermeisterin will bei Schloss-Ausstellungen bereits chaotische Zustände bemerkt haben. Das Idyll jedenfalls scheint etlichen Alteingesessenen gefährdet.
Hall hält dagegen, meint, dass nicht seine Besucher, sondern andere Touristen kreuz und quer parkten. Jetzt ist erst mal zur Befriedung ein Gutachter beauftragt. Ein Verkehrskonzept soll entwickelt werden, denn die Derneburger haben auch die Chance erkannt, die sich ihnen und der Region bietet.
Das Ehepaar Hall plant, mehrere Monate im Jahr in Derneburg zu leben, wenn sich ihre Wohnbedürfnisse mit denen der Denkmalpflege in Einklang bringen lassen können. Ihre Kunst lassen sie dann über Luft- und Seewege, wie klimaschonend das auch immer sein mag, ins Schloss bringen. Und so lange das gut geht, wird Derneburg zu den entschleunigenden Pflichtterminen bei Kunstreisenden zählen. Und ein Stachel im Fleisch der staatlich lahmenden Ausstellungshäuser sein.
Die Tickets für den Park und das Museum Schloss Derneburg kosten zwischen 8 und 20 Euro und werden monatsweise frei geschaltet.
Mehr: Ausstellung in der Hall Art Foundation: Baselitz und Beuys in niedersächsischem Märchenschloss zur Schau gestellt
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