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Après-Ski-IndustrieExzesse vor der Kamera: Ein Tiroler Fotograf hält Ischgl den Spiegel vor

Tausende Touristen steckten sich in dem Tiroler Skiort Ischgl mit dem Coronavirus an. Den Fotokünstler Lois Hechenblaikner verwundert das kaum.Hans-Peter Siebenhaar 23.04.2020 - 12:59 Uhr

Als ein Brennpunkt der Corona-Pandemie erlangte der österreichische Skiort traurige Berühmtheit.

Foto: Lois Hechenblaikner

Wien. Ischgl ist gefährlich. Der Fotograf Lois Hechenblaikner hat das bei seiner Arbeit am „Ballermann der Alpen“ am eigenen Leib erfahren. Als er in dem Tiroler Skiort ein streitendes Paar mit der Kamera festhalten wollte, stürmte der Ehemann wutentbrannt auf ihn zu. Selbst die Flucht in das nahegelegene Hotel eines Bekannten nutzte am Ende nichts. Der 62-jährige Tiroler bekam von dem deutschen Touristen einen schmerzhaften Schlag zwischen die Beine verpasst, an dem er monatelang litt.

Die örtliche Polizei nahm nicht einmal die Personalien auf. „Die Polizei hält maximal die Gosch’n. Sie ist politisch angepasst. Es gibt ein stilles Abkommen“, sagt Hechenblaikner. Eine Anzeige wegen schwerer Körperverletzung wurde von der Staatsanwaltschaft Innsbruck eingestellt. Touristen stehen in Ischgl unter Artenschutz – außer es ist Coronakrise.

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Denn weltweite traurige Berühmtheit erlangte das früher boomende Touristendorf in Tirol im März. Offenbar hatten sich Tausende Skitouristen in den berüchtigten Après-Ski-Bars mit dem Coronavirus infiziert. Obwohl Länder wie Island und Norwegen bereits Anfang März warnten, ging das Geschäft in Ischgl weiter.

Die Behörden und Politiker ignorierten in der Anfangsphase weitgehend das Problem oder redeten es klein. Als das außerhalb der Saison nur 1500 Einwohner große Dorf schließlich unter Quarantäne gestellt wurde, war es zu spät. Ischgl war längst zu einer globalen Virenschleuder geworden. Nun droht den Verantwortlichen eine Schadenersatzklage von hunderten von Betroffenen.

Hechenblaikner ist ein Tiroler Mannsbild. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert fotografiert er in Ischgl den alpinen Ausnahmezustand. „Ich habe den Ischglern immer gesagt, ihr bezahlt einen Preis dafür“, sagt der 62-Jährige. „Kein Dorf hat die alpintouristische Berauschungsindustrie so hoch kalibriert wie dieses.“

Der Fotograf hat den gewaltigen Aufschwung der alpin-touristischen Industrie im Paznauntal wie ein Ethnologe verfolgt. „Mich interessiert die Wandlung von ärmlichsten Bergbauern hin zu hochprofitablen Alkoholhändlern“, sagt Hechenblaikner und meint das keinesfalls ironisch.

„Ischgl ist der Inbegriff der alpintouristischen Durchgeknalltheit“, sagt Fotograf Hechenblaikner.

Foto: Lois Hechenblaikner

Seine Bilder sind witzig, hintergründig, aber auch verstörend und unbarmherzig ehrlich. Er ist ein fotografischer Thomas Bernhard. Hechenblaikner fixiert mit seiner Kamera Touristen im Schnee mit Penis auf dem Helm oder der Champagner-Flasche im Hosenschlitz, die visuelle Entweihung des Hauskreuzes mit Alkoholflaschen oder eine fingierte Vergewaltigung mit einer Plastikpuppe bei Vollsuff im Schnee.

„Ischgl ist für mich der Inbegriff der alpintouristischen Durchgeknalltheit“, sagt der Künstler aus dem Tiroler Alpbachtal, das ungefähr eineinhalb Stunden von Ischgl entfernt liegt.

Seine Technik: Er kommt nicht als Fotograf, sondern als Tourist. Er ist dort, wo Gäste aus aller Welt die Sau rauslassen, beispielsweise in der legendären Trofana-Skibar. Hechenblaikner kennt keine Berührungsängste bei seinen Langzeitbeobachtungen. „Ich nehme daran teil ohne daran teilzunehmen“, sagt er.

Fast immer ist er allein unterwegs. Nachts schläft er im Campingbus – der Ruhe und des Geldes wegen. Nur einmal war seine Ehefrau in Ischgl dabei und reiste schockiert wieder ab. „Ischgl ist ein hormoneller Schwarzmarkt. Der ideale Nährboden für Fremdgänger, Blindgänger und Draufgänger. In Ischgl ist alles zur Ware geworden“, sagt er.

In der durch die Coronakrise notwendigen Isolation widmet er sich ganz und gar Ischgl. Denn im Herbst wird beim Göttinger Steidl-Verlag sein rund 250 Seiten großes Fotobuch „Ischgl“ erscheinen. Hechenblaikner und der Verleger Gerhard Steidl arbeiten seit Jahren eng zusammen und haben viele Bücher (Hinter den Bergen, Winter Wonderland) gemeinsam auf den Markt gebracht.

„Von ärmlichsten Bergbauern hin zu hochprofitablen Alkoholhändlern.“

Foto: Lois Hechenblaikner

Für sein Ischgl-Buch kann das Tandem aus 9000 Bildern auswählen. Auf dem Titel wird eine giftgrüne Kunstpalme vor der Seilbahnstation Idalp, dem Zentrum des Ischgler Skizirkus, zu sehen sein, die als Garderobe für BH und Unterhose dient.

Hechenblaikner und Steidl sind auf ihre Art Radikale, wenn es um Kunst und Qualität geht. Das verbindet. Der Fotograf wird sich in seiner österreichischen Heimat mit dem Werk voraussichtlich nicht viele Freunde machen. Denn das Buch wird eine schonungslose Abrechnung mit dem Alpin-Tourismus.

„Mein Buch wird zur visuellen Gewissensprüfung für das Land“, verspricht Hechenblaikner. „Das Dorf ist von Herrgottwinkeln durchsetzt. Trotzdem gibt es keine Hemmschwelle mehr beim Kommerz.“ Das Buch werde die Après-Ski-Industrie zeigen und damit „die Beschleunigung der Entgrenzung“.

„Diabolisches Geschäftsmodell“

Die Touristen spricht Hechenblaikner nicht frei von Schuld. „Der Gast ist auch ein Komplize. Denn es geht nur, wenn der Gast mitmacht“, sagt Hechenblaikner in Anspielung auf die vielen deutschen Ischgl-Besucher und das „diabolische Geschäftsmodell“ der Einheimischen.

Die Anziehungskraft von Ischgl hat viele Gründe. Die Seilbahnen sind erster Klasse und das Skigebiet zählt zu den Besten auf der Alpennordseite. „Den Deutschen nimmt man nicht so leicht das Geld ab. Erst ab 0,5 Promille bis ein Promille – erst dann hat man einen Zugriff“, berichtet er.

„Es geht nur, wenn der Gast mitmacht.“

Foto: Lois Hechenblaikner

„Gäste auf Betriebstemperatur bringen, können aber nicht nur die Ischgler, sondern auch die Nachbarn in St. Anton und anderswo.“ Deshalb ist Ischgl für den Fotokünstler vor alle eine schrille Metapher für die touristischen Exzesse.

„Diese Freizeitindustrie ist in Wahrheit gegen das Leben gerichtet. Die Menschen kommen nicht erholt zurück, sondern ermattet“, sagt Hechenblaikner in Erinnerung an den schwäbischen Unternehmer Reinhold Würth, der diese Erkenntnis frühzeitig zum Thema gemacht hat. „Ischgl ist ein Überdruckventil für die Leistungsgesellschaft. Das Produkt ist Loslassen gegen Bezahlen.“

Wird die Coronakrise alles ändern? Hechenblaikner hat darauf keine Antwort. Doch selbst in der größten Not funktioniert das Après-Ski-Mekka. Als der Fotokünstler die Abreise von Hunderten ausländischen Mitarbeitern, insbesondere aus Osteuropa, in Ischgl und dem benachbarten St. Anton fotografieren wollte, verhinderte das die österreichische Polizei trotz Journalistenausweises.

Während der Ausreise der osteuropäischen Mitarbeiter durfte er nicht ins Tal einfahren. „Dies dient zur Sicherheit von Ihnen oder vielleicht auch von Personen, die mit Ihnen in Kontakt kommen könnten“, wurde ihm von einem Beamten beschieden.

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Der lokale Ordnungshüter war sensibilisiert für die Gefahr, die von Hechenblaikners Bildern ausgehen können. Das macht seine Fotografie so einzigartig und wertvoll.

Mehr: Österreich droht wegen Ischgl eine Sammelklagen-Flut

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