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EU-KolumneEin Denkmal stürzt: Die Merkel-Verehrung in Europa hat jetzt ein Ende

Kaum mehr als ein halbes Jahr liegt der Abtritt von Angela Merkel zurück, aber ihre Aura ist verblichen. Die strategischen Fehler der Altkanzlerin treten immer deutlicher hervor.Moritz Koch 30.06.2022 - 12:50 Uhr Artikel anhören

Umstrittenes politisches Erbe.

Foto: IMAGO/photothek

Als Angela Merkel im Oktober 2021 zu ihrem letzten EU-Gipfel nach Brüssel reiste, wurde sie als Ikone verabschiedet. Es gab ein Video mit ihren bewegendsten Gipfelszenen, unterlegt mit Klaviermusik; eine Rede, in der es hieß, ein EU-Gipfel ohne die Kanzlerin sei wie Paris ohne Eiffelturm. Und am Ende: Ovationen. Eine „Kompromissmaschine“ sei sie gewesen, schwärmte Luxemburgs Premier Xavier Bettel. Merkel werde der EU fehlen.

Die große Brüsseler Ehrerbietung liegt nicht einmal ein Jahr zurück, doch von Sehnsucht ist kaum noch etwas zu spüren. Merkels politisches Denkmal hat Risse bekommen. Wer heute mit EU-Diplomaten über die Kanzlerin im Ruhestand spricht, stellt fest: Die Wertschätzung, die Merkel lange zuteilwurde, ist Verbitterung gewichen, gerade in Osteuropa. 

Die Ex-Kanzlerin, die immer für sich in Anspruch nahm, Kremlherrscher Wladimir Putin zu durchschauen, steht vor den Trümmern ihrer Russlandpolitik. Deutschlands Bindung an russische Energie, von Merkel forciert, hat sich als Irrtum von historischem Ausmaß erwiesen. 

Angela Merkel hat das Unheil ihrer Politik geahnt

Es war nicht ihr einziger. Der enge wirtschaftliche Austausch mit China, von Merkel zur Chefsache erhoben, schränkt Europas außenpolitischen Aktionsspielraum ein. Und der Abbau des Rechtsstaats in Ungarn und Polen, von Merkel weitgehend ignoriert, gefährdet das Wertefundament, auf dem die Europäische Union beruht. Merkel hat das Unheil offenbar geahnt. „Die Baustellen für meinen Nachfolger sind groß“, sagte sie zum Abschied. Zumindest damit hat sie recht behalten.

Olaf Scholz, der das Kanzleramt von ihr übernommen hat, muss gemeinsam mit Vizekanzler Robert Habeck innerhalb weniger Monate bewerkstelligen, was Merkel 16 Jahre nicht für nötig hielt: eine Alternative zu russischem Gas zu finden. Putin hat die Gaszufuhr bereits gedrosselt, die Sorge wächst, dass er im Juli die Lieferungen ganz einstellen lässt und die deutsche Wirtschaft auf kalten Entzug gesetzt wird.

Der Autor: Jede Woche analysiert Moritz Koch, Leiter des Handelsblatt-Büros in Brüssel, im Wechsel mit anderen Brüsseler Korrespondenten in der EU-Kolumne Trends und Konflikte, Regulierungsvorhaben und Strategiekonzepte aus dem Innenleben der Europäischen Union. Denn wer sich für Wirtschaft interessiert, muss wissen, was in Brüssel läuft. Sie erreichen ihn unter: koch@handelsblatt.com

Foto: Handelsblatt

>> Lesen Sie hier auch: Der Trümmermann: Kanzler Scholz muss Merkels Erblasten wegräumen

Immer wieder hatten die Osteuropäer Merkel davor gewarnt, sich von Russland abhängig zu machen. Doch die Kanzlerin richtete ihre Politik lieber an den kurzfristigen Interessen deutscher Großkonzerne aus – russisches Gas war günstig, die politischen Kosten blieben verborgen. 

Merkel richtete ihre Politik eher kurzfristig aus

Selbst im vergangenen Herbst, als klar wurde, dass der Kreml Gaslieferungen nach Europa verknappt, um den Europäern ihre Abhängigkeit vor Augen zu führen, behauptete Merkel noch, dass Russland alle Verträge einhalte. Russland könne Gas nur auf der Grundlage vertraglicher Bindungen liefern, „nicht einfach so“, sagte sie damals auf eine Frage des Handelsblatts. 

Den Kremlstrategen hat die Antwort offenbar gefallen. „Russland hat immer alle seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllt und wird dies auch weiterhin tun“, behauptet Putins Sprecher Dmitri Peskow, so, wie er auch bestreitet, dass die russische Armee einen Krieg gegen die Ukraine führt.

Verwandte Themen Russland Deutschland Europäische Union Außenpolitik

Und die Kanzlerin a.D.? Macht es wie Édith Piaf: bereut nichts. Sie kokettiert sogar damit, sich lieber auf „Wohlfühlterminen“ huldigen zu lassen, als sich selbstkritisch mit ihrer politischen Bilanz auseinanderzusetzen. Kein Wunder, dass Angela Merkel in Brüssel kaum noch vermisst wird.

Mehr: Krieg, Inflation, Lieferengpässe: Die Wirtschaftslage ist angespannt, der Ausblick noch düsterer

Erstpublikation: 28.06.22, 12:27 Uhr.

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