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GastkommentarWarum wir mehr Abschreckung wagen sollten – auch mit der Wehrpflicht

Russland testet den Zusammenhalt der Nato immer stärker. Deutschland muss dem entschieden entgegentreten. Das Sondervermögen reicht dafür nicht, meinen Nathanael Liminski und Carlo Masala. 20.10.2025 - 04:00 Uhr
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Die Autoren: Professor Dr. Carlo Masala ist Professor für Sicherheits- und Verteidigungspolitik an der Universität der Bundeswehr. Nathanael Liminski ist Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Nordrhein-Westfalen. Foto: Reuters, Imago (2)

Drohnen über deutschem Himmel, russische Kampfflugzeuge im estnischen Luftraum, brennende Fabriken und Einkaufszentren in mehreren Nato-Staaten – das ist seit mehr als zwei Jahren europäischer Alltag. Russland provoziert uns, testet uns, versucht, unsere Gesellschaften in Angst zu versetzen, um Politik handlungsunfähig zu machen und die Allianz zu spalten. Was zunächst sporadisch war, geschieht inzwischen fast täglich an mehreren Orten zugleich. Wir können quasi live mitverfolgen, wie das Moskauer Regime immer wagemutiger und waghalsiger wird, um die Spannungen zwischen der Nato und Russland anzuheizen.

All das kann Russland nur machen, weil es offensichtlich nicht mehr an die abschreckende Wirkung der Nato glaubt und Zweifel daran hat, ob die Allianz geschlossen und geeint ist. Es gibt Kreise in Moskau, die an der Verlässlichkeit von Artikel 5 zweifeln und austesten, ob die Allianz im Ernstfall tatsächlich geschlossen handelt.

Zwar wurden in Europa die finanziellen Voraussetzungen für Aufrüstung geschaffen, doch fehlt bislang noch die kluge, zielgerichtete Umsetzung in moderne, einsatzfähige Streitkräfte – ebenso wie gesellschaftliche Resilienz und politische Entschlossenheit. Abschreckung braucht nicht nur Material (Panzer, Drohnen, Kampfflugzeuge etc.), sie braucht vor allem die eindeutige Bereitschaft, dieses Material im Ernstfall einzusetzen, sowie eine Gesellschaft, die bereit ist, dafür Verantwortung und Kosten zu tragen. Fehlen klare Signale, steigt die Versuchung beim Gegner, weiter zu testen.

Deutschland kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Anders als bei vielen europäischen Partnern hat die neue Bundesregierung die Frage der verlässlichen Finanzierung von Aufrüstung gelöst durch das neue Sondervermögen und die Ausnahme verteidigungsbezogener Ausgaben von der Schuldenbremse. Damit wächst die Verantwortung, in Europa Führung beim Aufbau wirksamer Abschreckung zu übernehmen.

Welche Lehren wir aus dem Ukrainekrieg ziehen sollten

Dabei müssen wir die richtigen Lehren aus dem Krieg in der Ukraine ziehen – nicht panisch Großaufträge für Panzer, Fregatten und Kampfflugzeuge absetzen, sondern das Beschaffungsprofil präzise an das erwartete Einsatzszenario ausrichten. Es braucht Drohnen und Panzer als Antwort auf die militärische Bedrohungslage.

Drohnen sind unzweifelhaft wichtig, aber nur Ergänzung, kein Ersatz für konventionelle Fähigkeiten. Drohnen verteidigen keine Territorien, noch sind sie in der Lage, diese zurückzuerobern. Am Ende des Tages sind es Soldaten, die „boots on the ground“, die Konflikte entscheiden und Kriege gewinnen.

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Konkrete Schritte müssen folgen: Die Beschaffung darf nicht in alten Routinen verharren. Langwierige, bürokratische Vergabeverfahren und Großaufträge müssen abgelöst werden durch schnellere, flexiblere Beschaffungswege, die Einsatzwirkung in den Mittelpunkt stellen. Dazu gehören beschleunigte Beschaffungswege, die Möglichkeit zu Kleinserien, Prototypen und Feldtests als Normalfall sowie Verträge, die Wartung, Ersatzteile und Einsatznutzungszyklen mitdenken.

Europa braucht zudem einen echten Durchbruch in der Verteidigungszusammenarbeit. Wirksame Abschreckung erfordert mehr als das Aufplustern einzelner nationaler Armeen in Europa. Nötig sind gemeinsame Forschung und Produktionslinien, abgestimmte Ausbildungskonzepte und kombinierte Einsatzformationen – gerade bei technologisch hochentwickelten Systemen wie Raketenabwehr. Hier liegt ein enormes Potenzial in der Ukraine.

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Ihre industrielle Kapazität ist groß und ihre Produkte sind kampferprobt. Daraus ergeben sich Chancen für gemeinsame europäisch-ukrainische Unternehmen, die Produktion skalieren, Know-how transferieren und die strategische Bindung vertiefen. Mit gezielten Investitionen, moderner Gesetzgebung für Tests und Skalierung ließe sich Europas Rüstungsindustrie strategisch zusammenführen.

Doch moderne Armeen gemeinsam aufzubauen ist das eine, sie auch gemeinsam einsetzen zu können, ist das andere. Angesichts wachsender Unsicherheit über langfristige US-Garantien brauchen wir echte Interoperabilität: gemeinsame Standards für Kommunikation und Daten, harmonisierte Logistik und Führungsstrukturen, regelmäßige Großübungen und geteilte Infrastruktur. Nur so werden europäische Kräfte im Ernstfall auch ohne US-Oberkommando handlungsfähig sein.

Welche Debatte wir jetzt brauchen

Und schließlich, vielleicht am wichtigsten, braucht es eine ehrliche Debatte über die menschliche Dimension der Abschreckung. Technologie vervielfacht Schlagkraft, ersetzt aber nicht die Menschen, die Panzer fahren, Flugabwehrsysteme bedienen und im Ernstfall bereit sein müssen, ihr Leben zu riskieren.

Die Stärkung der Reserve, eine breite Diskussion über nationale Dienstpflichtmodelle und die perspektivische Wiedereinführung der Wehrpflicht gehören deshalb wieder oben auf die politische Agenda. Ein modernes Modell müsste gesellschaftlich verhandelt werden, sinnvolle Ersatzdienste und Ausbildungspfade einschließen, die auch für das zivile Leben wertvoll sind.

Abschreckung ist kein abstraktes Konzept, sondern die tägliche Voraussetzung dafür, dass unsere Freiheit gewahrt bleibt. Deutschland hat die Mittel und die Verantwortung, diesen Prozess zu führen. Entscheidend wird sein, ob wir jetzt Routinen durchbrechen, europäisch handeln und unsere Gesellschaften auf die Realität einer raueren Welt einstellen.

Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit ist keine ausschließliche Aufgabe eines Verteidigungsministeriums. Sie braucht alle: die Exekutive, die Länder, die Kommunen und vor allem den Bürger. Mehr Abschreckung wagen heißt, den Frieden in Europa zu sichern.

Professor Dr. Carlo Masala ist Professor für Sicherheits- und Verteidigungspolitik an der Universität der Bundeswehr in München.

Verwandte Themen Russland Europa NATO Deutschland Bundeswehr Ukraine

Nathanael Liminski ist Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien des Landes Nordrhein-Westfalen und Chef der Staatskanzlei.

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