Gastkommentar – Homo oeconomicus: Lindners angebotspolitische Therapie beruht auf einer falschen Diagnose

Der Bundesfinanzminister will eine Trendwende zur Angebotspolitik.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) fordert auf Grundlage eines internen Papiers seines Ministeriums in einer Reihe von Medienbeiträgen eine angebotspolitische Zeitenwende, unter anderem am 11. Januar im Handelsblatt. Nach einem „Jahrzehnt der Verteilungspolitik und der Nachfragestärkung“ gelte es nun, eine „ordnungspolitische Trendwende zur Angebotspolitik“ zu wagen, heißt es in dem Papier.
Hinter dieser geforderten Trendwende verbergen sich sinnvolle Maßnahmen wie Bürokratieabbau und Beschleunigung von Planungsverfahren. Mit Nachdruck fordert Lindner jedoch auch, die Einkommensteuer und Unternehmensteuern zu senken. Eine so interpretierte angebotspolitische Zeitenwende wäre jedoch verfehlt.
Schon die Begründung, es habe zuletzt ein Jahrzehnt der Nachfragestärkung gegeben, ist falsch. Zwar wurde in der Coronakrise neben den Angebotskapazitäten auch die private Nachfrage stabilisiert, indem der Staat durch zusätzliche Ausgaben mehr Geld in Umlauf brachte. In den Vorkrisenjahren von 2010 bis 2019 gab es jedoch keine Nachfragestärkung.
Ganz im Gegenteil wurden zunächst durch eine restriktive, später eine neutrale Finanzpolitik die Haushaltsdefizite der Finanzkrise gesenkt. Danach herrschte die „schwarze Null“ mit permanenten Haushaltsüberschüssen. Ein Jahrzehnt der Haushaltskonsolidierung ist kein Jahrzehnt der Nachfragestärkung.
Hoher Bedarf an öffentlichen Ausgaben
Unzutreffend ist auch die Behauptung eines Jahrzehnts der Verteilungspolitik. Zwar wurden einige Rentenleistungen ausgeweitet, und es gab nach 2010 zumindest keine größeren Sozialkürzungen mehr. Aber der drastische Anstieg der Ungleichheit von Mitte der 1990er-Jahre bis 2005 – übrigens nicht zuletzt verursacht durch Steuersenkungen – wurde keineswegs rückgängig gemacht.

Achim Truger ist Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Professor für Staatstätigkeit und Staatsfinanzen an der Universität Duisburg-Essen.
Seit 2010 kam es zu einem weiteren leichten Anstieg der Ungleichheit der Haushaltsnettoeinkommen. Die Armutsrisikoquote stieg trendmäßig nahezu ungebremst weiter. Dasselbe gilt für die Altersarmut.
>> Lesen Sie hier: Lindners Luftnummer: Der Finanzminister rechnet seine Steuererleichterungen groß – ein Kommentar
Die Vorstellung, die akuten gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen könnten mit deutlich niedrigeren Steuern und einem geschrumpften Staat bewältigt werden, ist völlig unrealistisch. Bei einigen bestehenden Ausgaben mag es Einsparpotenziale geben. Aber bei nüchterner Betrachtung ist klar, dass der Bedarf an zusätzlichen – auch öffentlichen – Ausgaben zur Bewältigung der Transformation hin zur Klimaneutralität, des Investitionsstaus bei den Kommunen und für Bildung sowie Forschung und Entwicklung sehr hoch ist.






Hinzugekommen sind wegen des russischen Angriffskriegs erhebliche Mehrbedarfe bei den Verteidigungsausgaben. All das dürfte über einen längeren Zeitraum zusätzliche öffentliche Ausgaben in hoher zweistelliger Milliardenhöhe pro Jahr erfordern. Einiges, aber nicht alles davon lässt sich sinnvollerweise über Kredite finanzieren.
Deutschland kann sich angesichts der akuten Herausforderungen keine angebotspolitische Wende mit allgemeinen Steuersenkungen und einem kleineren und schwächeren Staat leisten. Im Gegenteil: Der Staat wird auf absehbare Zeit eine größere Rolle spielen müssen.





