Der Chefökonom: Riskante Erwartungen an Klingbeils Steuerschätzung
Düsseldorf. Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) dürfte der in der kommenden Woche turnusmäßig stattfindenden Tagung des Arbeitskreises Steuerschätzungen mit gemischten Gefühlen entgegenschauen. Einerseits würde ihm jeder zusätzliche Euro an Steuereinnahmen bei seinen äußerst fragilen Haushaltsplanungen für die kommenden Jahre helfen.
Andererseits werden bei prognostizierten Mehreinnahmen regelmäßig Forderungen nach zusätzlichen Mitteln für dringende Zwecke laut. Das für Klingbeil wohl beste Ergebnis wäre, wenn der unabhängige Schätzerkreis im Wesentlichen seine Frühjahrsprognose bestätigen würde.
Doch danach sieht es nicht aus. Denn nach Ansicht der Regierungsökonomen haben sich die Konjunkturperspektiven in den vergangenen sechs Monaten aufgehellt, was keineswegs der Fall sein muss. Während die Bundesregierung im Frühjahr für dieses Jahr noch von einer Stagnation der Volkswirtschaft ausging, werden nunmehr immerhin 0,2 Prozent Wachstum erwartet. Für 2026 wurde die Prognose für das reale Wirtschaftswachstum von 1,0 auf 1,3 Prozent angehoben, und in 2027 soll die Wirtschaft sogar 1,4 Prozent zulegen.
Ein Prozent zusätzliches Bruttoinlandsprodukt erhöht nach einer Faustregel das Steueraufkommen um etwa zehn Milliarden Euro – sofern nicht zwischenzeitlich verabschiedete Steuergesetze wie etwa die neuen Abschreibungsregeln für Investitionen dieser Entwicklung entgegenstehen.
Da die meisten Steuern Geldgrößen als Bemessungsgrundlage haben, also Umsätze, Löhne, Kapitalerträge oder Gewinne, ist nicht die reale, sondern die nominale Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und seiner Komponenten relevant für das Steueraufkommen. Inflation lässt daher die Steuerquellen üppiger sprudeln.
Und an dieser Stelle werden Veränderungen im Vergleich zur Frühjahrsprognose besonders deutlich: Anstelle der bislang erwarteten 2,0 Prozent nominales Wachstum für das laufende Jahr erwarten die Regierungsökonomen nun 3,0 Prozent; und aus den jeweils 3,0 Prozent für 2026 und 2027 wurden weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit 3,9 und 3,7 Prozent.
Mehreinnahmen suggerieren stattliche Manövriermasse
Angesichts dieser Revisionen dürfte Klingbeil in der kommenden Woche ein leichtes Plus beim erwarteten Steueraufkommen verkünden können. Dieser Zuwachs wird optisch dadurch aufgebläht, dass mittlerweile auch das Finanzministerium dazu übergegangen ist, solche Schätzkorrekturen über die Jahre aufzusummieren.
So mögen 50 oder gar 100 Milliarden Euro geschätzte Mehreinnahmen eine stattliche Manövriermasse suggerieren. Doch setzt man diese Größe in Relation zum gesamten Steueraufkommen von mehr als 5000 Milliarden Euro binnen fünf Jahren, so geht dieser Betrag im statistischen Rauschen unter. Eine relevante Entlastung bei der Bedienung der geplanten neuen Staatsverschuldung wären diese höher geschätzten Einnahmen kaum.
Als eine zentrale Größe für die Entwicklung der Steuereinnahmen gilt der Zuwachs der Bruttolohn- und gehaltssumme. Steigen die Löhne und Gehälter, so steigt das Lohnsteueraufkommen angesichts des progressiven Steuertarifs überproportional. Dabei ist irrelevant, ob die Löhne real steigen oder ob die Lohnerhöhungen nur die Teuerung ausgleichen oder ob die Beschäftigung wächst.
Überdies folgen einer Erhöhung der volkswirtschaftlichen Lohnquote zumeist steigende Konsumausgaben, die wiederum das Aufkommen der Umsatzsteuer steigen lassen. Umsatz- und Lohnsteuer machen zusammen etwa 60 Prozent des gesamten Steueraufkommens aus. Die nunmehr vorgenommene Aufwärtsrevision der Entwicklung der Bruttolohn- und -gehaltssumme wird daher das geschätzte Gesamtsteueraufkommen spürbar erhöhen.
Mit deutlichem Abstand von jeweils um die acht Prozent Anteil am Steueraufkommen folgen die von Unternehmern gezahlte „veranlagte Einkommensteuer“ und die von den Gemeinden erhobene Gewerbesteuer. Die größte spezielle Verbrauchersteuer ist die „Energiesteuer“ (vormals Mineralölsteuer), die nahezu vier Prozent zum steuerlichen Gesamtaufkommen beiträgt.
Die Körperschaftsteuer generiert etwas mehr als drei Prozent des Steueraufkommens. Relevante Zuwächse bei dieser und den anderen Unternehmensteuern sind angesichts der verbreiteten trüben Gewinnaussichten nicht zu erwarten.
Die anderen etwa zwei Dutzend Einzelsteuern sind für die Entwicklung des Gesamtaufkommens wenig relevant. Sie dienen letztlich vor allem einer Feinjustierung des Steuersystems sowie des Verhaltens der Verbraucher. Rechnerisch ließen sich die zehn aufkommenschwächsten Steuern durch die Erhöhung der Umsatzsteuer um einen Prozentpunkt leicht ersetzen.
Zweifel an Berlins Wachstumsprognose
Der Arbeitskreis Steuerschätzungen begeht in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag. Dem unabhängigen Beirat gehören neben dem federführenden Bundesfinanzministerium das Bundeswirtschaftsministerium, fünf Wirtschaftsforschungsinstitute, das Statistische Bundesamt, die Deutsche Bundesbank, der Sachverständigenrat, die Länderfinanzministerien sowie die Bundesvereinigung kommunaler Spitzenverbände an.
Bei den zumeist halbjährlich stattfindenden Tagungen werden alle Steuern einzeln diskutiert und auf Basis der gesamtwirtschaftlichen Vorgaben geschätzt. Grundlage ist stets das geltende Recht, geplante, aber noch nicht verabschiedete Steuerrechtsänderungen wie etwa die neue „Aktivrente“ bleiben damit unberücksichtigt. Insofern ist die Steuerschätzung stets eine bedingte Prognose. Erweisen sich die Vorgaben und Annahmen als falsch, so muss auch die Prognose unzutreffend sein.
Und Zweifel an der aktuellen Konjunktur- und Wachstumsprognose der Bundesregierung sind durchaus angebracht. Das Handelsblatt Research Institute (HRI) erwartet, dass die deutsche Wirtschaft dieses Jahr zum dritten Mal in Folge leicht schrumpfen wird und kommendes Jahr lediglich um 0,7 Prozent real zulegen dürfte. Die jüngsten Hiobsbotschaften aus der Industrie lassen diese eher pessimistische Sicht wahrscheinlicher werden.
Das HRI steht mit seinen skeptischen Erwartungen nicht allein, auch die Weltbank geht für das nächste Jahr nur von einem schwachen Wirtschaftswachstum aus. „Es zeigt sich immer deutlicher, dass die Hoffnungen zahlreicher Institute und der Bundesregierung auf eine Belebung im zweiten Halbjahr wohl nichts weiter als Hoffnungen bleiben werden“, stellt Deka-Chefökonom Ulrich Kater fest.
Stand heute sei im dritten Quartal ein weiterer Rückgang des Bruttoinlandsprodukts zu erwarten. Und Commerzbank-Research räumt ein: „Klare Hinweise auf einen Aufschwung gibt es weiterhin nur für den Bau“ – was angesichts der Milliardenprogramme der Regierung kein Wunder ist.
Die neue Steuerschätzung steht daher auf einem fragilen Fundament. Klingbeils Sorgen dürften nicht kleiner werden.