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GeoeconomicsDer Nato-Gipfel in Vilnius könnte eine Zäsur werden

Beim Treffen der Allianz im Juni werden sich die Konturen einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur abzeichnen. Die Nato hat mehrere Optionen.Wolfgang Ischinger 18.05.2023 - 12:18 Uhr
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Wolfgang Ischinger ist ehemaliger Botschafter in Washington und war Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz.

Foto: Klawe Rzezcy

Kaum ist der Applaus nach der überaus erfolgreichen deutsch-ukrainischen Umarmung in Berlin und Aachen verklungen, stellt sich angesichts des nächsten Nato-Gipfels im Juni die Frage einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine mit neuer Dringlichkeit. Das Verteidigungsbündnis gilt als ein zentrales Element künftiger Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Was genau soll also im Kommuniqué von Vilnius stehen?

Nur die Nato-Mitgliedschaft kann der Ukraine künftig umfassende, glaubwürdige Sicherheit bieten, sagen die einen. Die anderen sagen: Wer die Ukraine in die Nato aufnehmen will, überschreitet eine russische rote Linie, handelt unverantwortlich und riskiert Krieg mit Russland

Wer hat recht? Im Prinzip gibt es folgende Optionen:

    Eine positive Aufnahmeentscheidung beim Gipfel in Vilnius: scheidet praktisch aus, weil damit die Nato quasi automatisch zur Kriegspartei würde und schon deshalb nicht damit zu rechnen ist, dass eine Konsensentscheidung sämtlicher Nato-Mitglieder zustande kommen würde.Eine positive Aufnahmeentscheidung, allerdings gekoppelt an die Beendigung des Kriegs zwischen Moskau und Kiew: wird von manchen befürwortet, könnte aber Moskau veranlassen, einer förmlichen Kriegsbeendigung auch auf längere Sicht nicht zuzustimmen, um so den Nato-Beitritt der Ukraine weiter zu verhindern. Man würde also Moskau indirekt ein „droit de regard“ einräumen. Nicht empfehlenswert.Eine Wiederholung der seit 2008 üblichen „Bukarest-Formel“: Bekräftigung der Beitrittsperspektive. Diese Formel könnte natürlich durch konkrete militärische Unterstützungszusagen und vielfältige Ausbildungs- und Zusammenarbeitsprogramme angereichert werden, um ein noch klareres politisches Signal für den künftigen Ukrainebeitritt zu senden. Manche plädieren dafür, das durch einen Fahrplan, einen Membership Action Plan (MAP), zu unterstreichen. Anderen – auch in Berlin – geht das schon einen Schritt zu weit. Vieles spricht dafür, dass der Nato-Gipfel sich in dieser Richtung äußern wird, mit oder ohne konkreten MAP.

Diplomatisch und strategisch-verhandlungstaktisch werden einige weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen sein: Die Frage der ukrainischen Nato-Mitgliedschaft könnte als solche wieder Gegenstand ukrainisch-russischer Verhandlungen werden. Immerhin hat Präsident Selenski selbst im Frühjahr 2022 entsprechende Erklärungen abgegeben.

Eine starke Bekräftigung der Bukarester Formel würde gegebenenfalls das Pfand in der Hand Selenskis hierfür stärken. Dann würde allerdings die Frage anderer Sicherheitsgarantien, etwa der umfassenden militärischen Ausstattung der Ukraine als Abschreckungsmacht, noch stärker an Bedeutung gewinnen, vielleicht gekoppelt mit bilateralen Sicherheitsvereinbarungen mit den USA und anderen Partnern.

Nato-Grundakte als Lösung?

Ein weiterer Gesichtspunkt betrifft die Nato-Russland-Grundakte von 1997. Obwohl dieser Vereinbarung durch die russischen Aggressionshandlungen eigentlich längst der Boden entzogen ist, hat das Bündnis die Grundakte bisher nicht formal für obsolet erklärt.

Es wäre deshalb denkbar, dass das Bündnis hier einen Trumpf ausspielen könnte: Für den Fall eines Totalrückzugs Russlands aus sämtlichen besetzten ukrainischen Territorien könnte die Nato Russland anbieten, die Grundakte bei einem Nato-Beitritt der Ukraine zu bekräftigen: also weder Stationierung westlicher Nuklearwaffen noch wesentlicher Nato-Kampftruppenverbände auf ukrainischem Boden.

Die Nato muss in Vilnius entscheiden, welchen Status die Ukraine in Zukunft bekommen soll.

Foto: IMAGO/Ukrinform

Das wäre doch ein Angebot! Könnte das vielleicht Teil einer längerfristigen Konfliktlösung werden, wenn Moskau endlich einsehen sollte, dass seine eigentlichen Kriegsziele dauerhaft unerreichbar bleiben?

Schließlich darf daran erinnert werden, dass das Bündnis selbst in der Kernzeit des Kalten Kriegs immer das Angebot von Dialog und Zusammenarbeit mit der damaligen Sowjetunion aufrechterhalten hat.

Die Harmel-Doppelstrategie von damals lautete, verkürzt formuliert: so viel Abschreckung und Verteidigung wie nötig, so viel Angebot von Dialog und Zusammenarbeit wie möglich. Davor sollten selbst diejenigen Bündnispartner nicht die Augen verschließen, die sich heute auch längerfristig keinerlei Umgang mit Moskau vorstellen können oder sogar den Zerfall der Russischen Föderation herbeiwünschen.

Vernünftiger wäre es wohl, nach einer Beendigung des Ukrainekriegs zu trachten, die einen Wiederbeginn der Suche nach gemeinsamer Sicherheit für alle im euroatlantischen Raum jedenfalls nicht kategorisch beziehungsweise für alle Zeit ausschließt. Die neue Formel „Sicherheit vor oder gegen Russland“ ist politisch-strategisch genauso wenig zielführend wie das bisherige Mantra „Sicherheit nur mit Russland“.

In Vilnius fallen wichtige Entscheidungen

Die Wiederherstellung voller territorialer Integrität der Ukraine und der vollständige Abzug Russlands sollten für die Bündnismitglieder in Vilnius ein zentrales Ziel bleiben. Aber ein dauerhafter waffenstarrender Konflikt mit der Nuklearmacht Russland sollte und darf nicht das politisch-strategische Langfristziel deutscher, europäischer oder transatlantischer Sicherheitspolitik sein.

Verwandte Themen NATO Ukraine Russland Außenpolitik

Beim Nato-Gipfel im Juni können also wichtige Weichen gestellt werden – kurzfristig für die weitere militärische Stärkung der Ukraine, mittelfristig für eine Beendigung des russischen Angriffskriegs und längerfristig auch für die Errichtung einer stabileren gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur.

Mehr: Finnlands Außenminister zum Nato-Beitritt – „Wir hatten Glück, Schweden nicht“

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