Analyse der VW-Affäre: Warum der 32 Milliarden Euro teure Dieselskandal auch seine positive Seite hat

Ein neuer Volkswagen ID.3 steht zur Auslieferung in einem Turm der Wolfsburger VW-Autostadt bereit.
Es ist der größte Skandal in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. 32 Milliarden Euro hat die Dieselaffäre Volkswagen bislang gekostet, und ein Ende ist nicht abzusehen. Das Leben einst gefeierter Topmanager wie von VW-Chef Martin Winterkorn oder seinem Audi-Kollegen Rupert Stadler wurde auf den Kopf gestellt. Ruhm und Anerkennung sind dahin, demnächst müssen sich beide vor Gericht verantworten.
Doch so verwegen es klingen mag: Der Skandal hat etwas Positives. Denn letztlich hat der Betrug einen Erneuerungsprozess bei VW eingeleitet, den es mit dieser Geschwindigkeit sonst niemals gegeben hätte. Was mit der Aufdeckung durch US-Umweltbehörden vor exakt fünf Jahren begann, hat nicht nur den VW-Konzern, sondern gleich die gesamte Automobilindustrie nach vorn gebracht.
Unter Konzernchef Martin Winterkorn ging es bei Volkswagen eigentlich nur nach oben. 2013 und 2014 meldeten die Wolfsburger Rekordgewinne, der Aufstieg zur weltweiten Nummer eins schien nur noch eine Frage der Zeit. Doch was damals niemand so recht wahrhaben wollte: Auf wichtigen Auslandsmärkten wie Nord- und Südamerika ging es mit dem Konzern abwärts, und auch das Image der Marke hatte schon deutlich gelitten.
Die Rekordgewinne waren zu einem Ballast geworden. Niemand in Wolfsburg wollte die Notwendigkeit erkennen, dass sich auch ein Riese wie Volkswagen erneuern muss. Elektromobilität, Digitalisierung, neue Formen der Mobilität – all das schien die Verantwortlichen von Volkswagen nicht sonderlich zu interessieren.
Wenn die Dieselmanipulationen nicht im September 2015 aufgeflogen wären, hätte Martin Winterkorn wahrscheinlich noch zwei oder drei Jahre als Konzernchef weitergemacht. Und dem Beispiel des VW-Patriarchen Ferdinand Piëch folgend, hätte Winterkorn danach auch noch als Aufsichtsratsvorsitzender weitere Jahre maßgeblichen Einfluss auf den Konzern genommen. Doch mit dem Dieselskandal wurde vieles anders. Plötzlich musste auch der Vorstandsvorsitzende den Konzern verlassen.
Schaden begrenzen
Natürlich ging es anfangs vor allem darum, die Dieselaffäre irgendwie in den Griff zu bekommen und den zu erwartenden Schaden zu begrenzen. Im September 2015 war die Unsicherheit in Wolfsburg groß. Sogar die Existenz des Konzerns stand auf dem Spiel.
Doch zugleich begann etwas Neues. Bald setzten sich die Entwicklerteams zusammen und starteten mit der Arbeit an neuen Elektroautos. Die Ergebnisse sind gerade jetzt zu sehen: Vor wenigen Tagen hat der Konzern die ersten ID.3 an Kunden ausgeliefert.
Die Entwicklung dieser Autos war zwar mit Geburtswehen verbunden, wie die immer wieder aufkommenden Software-Probleme gezeigt haben. Mit der ID-Elektro-Modellreihe ist jedoch etwas Bemerkenswertes in Wolfsburg passiert. Der gesamte Entwicklungsprozess dieser komplett neuen Autos hat vom ersten Bleistiftstrich bis hin zur fertigen Produktion gerade einmal vier Jahre gedauert. Davor hatte sich Volkswagen bei klassischen konventionellen Verbrenner-Pkw meistens sieben Jahre Zeit für ein neues Modell genommen.
Der Wolfsburger Koloss ist also wesentlich schneller geworden und hat so auch eine Antwort auf Tesla gefunden. Denn Tesla-Gründer Elon Musk macht jeden Tag vor, dass es in der eher festgefahrenen und traditionell ausgerichteten Automobilindustrie immer wieder neue Ideen geben kann. Und in Wolfsburg hätte es zuvor niemand für möglich gehalten, dass sich ein neues Auto in nur vier Jahren entwickeln lässt.
Beschleunigungseffekt strahlt aus
Der vom Dieselskandal ausgelöste Beschleunigungseffekt hat auch ganz entscheidend auf die Politik ausgestrahlt, wie das Beispiel Europa gerade in diesen Tagen zeigt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will eine weitere Verschärfung der Klimaziele durchsetzen, was auch wieder Konsequenzen für die Automobilhersteller nach sich zieht. Denn diese Ziele lassen sich nur erreichen, wenn noch mehr Elektroautos als ursprünglich geplant auf die Straßen kommen. Das trifft dann nicht mehr nur Volkswagen, sondern die gesamte Automobilindustrie.
Vor fünf Jahren hätte sich die Branche lautstark dagegen gewehrt. Doch auch VW-Konzernchef Herbert Diess lässt erkennen, dass sich die verschärften Klimaziele durchaus erreichen lassen. Weil es die fertigen und fahrbereiten Elektroautos schon heute gibt und weil sie eben nicht noch drei weitere Jahre auf den Teststand geschickt werden müssen.
Doch der Dieselskandal wird nicht nur der Umwelt helfen. In dieser Woche hat sich auch US-Monitor Larry Thompson aus Wolfsburg verabschiedet. Er bescheinigt den VW-Verantwortlichen, dass sie in den zurückliegenden drei Jahren seines Mandats ein besseres Unternehmen aus dem VW-Konzern gemacht hätten.






Kulturwandel bei VW
Bei Volkswagen hat nach der Aufdeckung des Dieselskandals ein Kulturwandel begonnen. Intern wurde der Umgang miteinander offener, transparenter und kritischer. Die Hierarchiegläubigkeit prägt das Arbeitsleben bei VW nicht mehr so stark wie in der Vergangenheit. Das bestätigt auch der Monitor.
Mehr Offenheit und Transparenz können dafür sorgen, dass im stillen Kämmerlein nicht so schnell wieder neue kriminelle Ideen entwickelt werden. Ein völliger Schutz gegen neues Fehlverhalten ist das zwar nicht. Aber es ist eine wichtige Voraussetzung, um einen weiteren Dieselskandal zu verhindern.
Mehr: Dieselskandal: US-Kontrolleur hat Volkswagen fast 700 Millionen Euro gekostet.





