Kommentar Mindestlohn-Vorstoß: Die SPD lässt ihre ökonomische Vernunft vermissen

Profilierungsversuche im Angesicht einer schwächelnden Union.
Der gesetzliche Mindestlohn wird Mitte kommenden Jahres bei 10,45 Euro liegen, so, wie es die Mindestlohnkommission beschlossen hat – und nicht etwa bei zwölf Euro. Darauf kann man getrost eine gute Flasche Wein wetten.
Ob Olaf Scholz und Hubertus Heil wohl dagegen wetten? Beide setzen sich dafür ein, den Mindestlohn zu einem echten „Living Wage“ zu machen, Armut trotz Arbeit soll es zumindest für Vollzeitbeschäftigte nicht mehr geben.
Doch auch wenn der Vizekanzler und der Arbeitsminister jetzt versuchen, ihrem Vorstoß mit einem Eckpunktepapier ministerielles Gewicht zu verleihen, so lässt er sich doch ganz schnell als Wahlkampfgetöse enttarnen. Es ist sicher kein Zufall, dass Scholz und Heil ihr Papier ausgerechnet in dem Moment präsentieren, in dem CDU und CSU mit dem Maskenskandal kämpfen.
Selbst wenn die Union geschwächt ist, so ist doch ein rot-rot-grünes Bündnis derzeit außer Sichtweite – und damit auch eine Anhebung der Lohnuntergrenze auf zwölf Euro.
Die SPD muss sich aber auch fragen lassen, ob es ökonomisch klug ist, ausgerechnet jetzt den Mindestlohn zum Wahlkampfthema zu machen. Bewährt hat er sich seit seiner Einführung 2015 bisher nur in wirtschaftlichen Boomzeiten. Erst jetzt, in der durch Corona ausgelösten tiefen Rezession, kommt der erste Härtetest.
Anhebung des Lohns bei Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit?
Ausgerechnet jetzt, wo die Arbeitslosigkeit steigt und die Zahl der Langzeitarbeitslosen wieder die Millionenschwelle durchbrochen hat, für höhere Mindestlöhne zu trommeln und Ausnahmeregelungen aufheben zu wollen, ist schon gewagt. Ökonomischer Sachverstand wird hier dem wahlkampftaktischen Kalkül geopfert.
In den Branchen, die seit Monaten im Lockdown stecken und in denen oft nur der Mindestlohn gezahlt wird, dürfte kaum Applaus winken.
Mit ihrem Vorstoß brechen Heil und Scholz zudem das Versprechen ihrer Kurzzeit-Parteichefin Andrea Nahles, dass der politische Eingriff in die Tarifautonomie ein einmaliger Sündenfall sei. Weicht man nun – erneut einmalig, versteht sich – von der gesetzlich festgelegten Orientierung an der Tariflohnentwicklung ab, ist einem politischen Überbietungswettbewerb Tür und Tor geöffnet. Gegenüber der Linken, die schon 13 Euro fordert, sieht die SPD bereits alt aus.
Besonders pikant bei dem Vorstoß: Im gleichen Papier machen Scholz und Heil auch Vorschläge für eine Stärkung der Tarifbindung. Den Mindestlohn schlagartig auf zwölf Euro anzuheben würde aber Dutzende von Arbeitgebern und Gewerkschaften geschlossene Tarifverträge, die noch darunterliegen, entwerten.
Unverhoffte Wahlkampfhilfe dürften Heil und Scholz mit ihrem Vorstoß vor allem dem Merz-Lager innerhalb der Union und der FDP leisten. Das wird eher nicht in ihrem Sinne sein. Wetten?
Mehr: Chef der Mindestlohnkommission: „Politisch und rechtlich höchst fragwürdiger Eingriff“
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Das sind die gleichen alten Hüte, die uns die Arbeitgeber-Lobbyisten seit Jahrzehnten erzählt haben, ein Mindestlohn koste Arbeitsplätze.
Das mag ceteris paribus stimmen. Theoretisch hätten wir am ehesten Vollbeschäftigung, wenn Arbeit nichts kostete (nur müssten wir dann eine Exportquote von nahe 100% haben, weil im eigenen Lande Arbeitnehmer nichts kaufen könnten).
Den Realitätscheck hat diese Arbeitgeber-Propaganda nicht bestanden, die Beschäftigung hat auch mit Mindestlohn zugenommen, das lässt sich nicht wegkommentieren. Jetzt die Coronakrise zu nutzen, um diese alte und durch die Fakten widerlegte Propaganda erneut zu verbreiten, das ist schon etwas schäbig.
Über Details kann man mit guten Gründen streiten. Aber diejenigen, die von der Forderung befremdet sind, man müsse auch von seiner Arbeit leben können, und zwar oberhalb des Existenzminimums, müssen sich schon nach ihrer Vorstellung fragen lassen, wie denn der Wohlstand in diesem Land verteilt sein soll.
Es ist eine Fehlvorstellung, nur die an der Spitze würden den Wohlstand erarbeiten, ohne das Fußvolk wären deren Einkommen und Vermögen nicht denkbar. Soll Jeff Bezos alle Amazon-Pakete selbst packen? "Caesar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?"