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Morning BriefingBleiben oder gehen – Typologie der Rücktritte

Hans-Jürgen Jakobs 11.06.2021 - 06:00 Uhr Artikel anhören

Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,

unsere Gesellschaft fordert, bejubelt, belohnt Leistungsnachweise. Und deshalb beginnt bei Pannen, Pech und Patzern die ganz große Nervosität. Wir sehen das aktuell bei mehreren Fast-Rücktrittsfällen. Eine Typologie.

Da ist der Münchner Kardinal Reinhard Marx, der nach den vielen Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche abtreten wollte. Papst Franziskus bat ihn, zu bleiben – ein „inakzeptabler Rücktritt“ also. Ungläubige denken aber, es könne ein „inszenierter Nicht-Rücktritt“ sein.

Anders verhält es sich beim Kölner Kollegen Kardinal Rainer Maria Woelki. Der Kardinal macht weiter, obwohl mittlerweile päpstliche „Visitatoren“ sein mögliches Missbrauch-Versagen detektivisch prüfen. Das ist der „ignorierte Rücktritt“.

Alfons Hörmann wiederum, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbunds, hat für September eine Vertrauensfrage angesetzt. Der anonyme Brief eines Insiders schildert ein „Klima der Angst“ in der Verbandszentrale, die Ethikkommission riet daraufhin zu Neuwahlen. Klarer Fall von „vertagtem Rücktritt“.

Bei der Linken wiederum haben Genossen ein Parteiausschlussverfahren gegen die unbotmäßige, weil freidenkende Sahra Wagenknecht beantragt, die Spitzenkandidatin in Nordrhein-Westfalen. Ein Name für dieses Genre? „Stalinistischer Rücktritt“.

In der Kunst des „strategischen Rücktritts“ wiederum übte sich Franziska Giffey. In Antizipation des Verlusts ihres Doktortitels gab sie das Amt der Bundesfamilienministerin auf und stürzte sich – qua Läuterung angeblich moralisch imprägniert – auf die Aufgabe, Regierende Bürgermeisterin Berlins zu werden. Die FU Berlin erklärt übrigens, ihr akademischer Grad sei durch „Täuschung über die Eigenständigkeit ihrer wissenschaftlichen Leistung“ zustande gekommen.

Und schließlich gibt es noch den „erfundenen Rücktritt“, über den man auf Social Media räsonieren kann, als sei er wahr. „Spiegel“-Kolumnistin Bettina Gaus malte aus, wie toll es wäre, wenn Annalena Baerbock an Robert Habeck übergäbe, um dann zum Schluss zu gelangen, so käme es garantiert nicht. „Das bin ich ganz und gar nicht“, sagt Baerbock denn auch selbst dazu.

Konfuzius machte es sich zu einfach: „Wird man gebraucht, erfüllt man seine Pflicht. Wird man nicht mehr gebraucht, so zieht man sich zurück.“

Unterm Strich: In der modernen Statusökonomie denken die meisten, sie werden gebraucht, weil sie immer schon gebraucht wurden. Nur wenige wissen, dass Rückschritt Fortschritt sein kann.

Eine große Zukunftsaufgabe ist „Government Technology“ (GovTech): Wie schnell wird der Staat digital fit? Viele Bürger sind nämlich mit dem real existierenden Bleistift-und-Fax-Regime unzufrieden. Auf dem ersten GovTech-Gipfel des Handelsblatts forderten Spitzenpolitiker mehr digitalen Schwung. Mit Verve plädiert Unionskanzlerkandidat Armin Laschet für ein Digitalministerium: Wenn sich nichts tue, „dann wird das irgendwann auch zu Misstrauen in staatliche Institutionen führen“. Das Ziel sei, so FDP-Vormann Christian Lindner, „Government as a platform“.

Dagegen sieht SPD-Rivale Olaf Scholz ein neues Ministerium kritisch, Digitalisierung solle „Chefsache“ sein. Da ist er nahe bei den Grünen, die eine Digitalisierungs-Taskforce im Kanzleramt wollen, die sich mit NGOs und Start-ups vernetzt. Der Co-Parteichef der Grünen, Robert Habeck, fordert, staatliche Kernbereiche binnen einer Legislaturperiode zu digitalisieren.

Wenn wir jetzt bei den Grünen sind: Ihr Parteitag an diesem Wochenende wird von zwei Fragen beherrscht. Erstens: Wann stoppt der Umfragerückgang? Zweitens: Bekommt Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock das noch hin? Gestern Abend musste sie in der ARD wieder ihre Fehler erklären. Ihre zuvor geschönten Angaben im Lebenslauf seien nun korrekt: „Vieles ruckelt sich noch zusammen.“

Verbände und Unternehmen befürchten, auf Druck der Basis werde sich bei den Grünen ein schärferer Öko-Kurs zusammenruckeln, beschreibt unser Report. Wer die Transformation wolle, dürfe nicht ständig neue Hemmnisse ins Spiel bringen, sagt etwa Evonik-Chef Christian Kullmann, Präsident des Verbands der Chemischen Industrie: „Gaspedal und Bremse funktionieren nicht gleichzeitig.“

Foto: Smetek

Nach einer Dekade Betongold sind Experten vorsichtiger, wenn es um Immobilien geht – und raten dennoch zum überlegten Kauf. Das ergibt sich aus unserem Wochenendtitel zu den „Trendvierteln“, einem jährlichen Klassiker im Handelsblatt-Angebot. Selbst in der Coronakrise zogen die Preise für Wohneigentum weiter an, um 8,5 Prozent im Vorjahresvergleich.

Nun geht der Markt in eine stabile Entwicklung über, beflügelt vom Interesse der professionellen Investoren und Fondsgesellschaften. Berlin, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, München und Stuttgart haben es ihnen angetan – und inzwischen auch das Umland dieser sieben Top-Städte. Exakte Daten bekommen Sie in dieser Ausgabe zu Berlin/Potsdam, Aachen und Herne/Gelsenkirchen.

Es gibt wenige Politikfelder, auf denen man so gut in der Zukunft lesen kann wie in der Rentenversicherung. Deutschland stehe „kurz vor dem Beginn eines massiven, fast 20 Jahre anhaltenden Alterungsschubs, der – wenn nicht gegengesteuert wird – das Rentensystem an den Rand des Zusammenbruchs bringen könnte“, schreibt Handelsblatt-Chefökonom Bert Rürup. Anfang der Woche hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium die gerne mit der Gießkanne hantierenden Politiker in den Realitätsschock versetzt. Heute fließen bereits 25 Prozent des Bundeshaushalts in die Rentenkassen, 2040 dürften es 44 Prozent, 2060 sogar 55 Prozent sein.

Eine Alternative ist, länger zu arbeiten: Das Institut der deutschen Wirtschaft bringt 70 Jahre als Renteneintrittsalter von 2052 an ins Gespräch. Professor Rürup schlägt dagegen vor, die Rentenansprüche kleinerer Einkommen mit der Zeit relativ stärker ansteigen zu lassen, als jene Ansprüche größerer Einkommen. Vorbei wäre es mit dem „Äquivalenz-Prinzip“ – eine heilige Kuh der deutschen Rentenpolitik würde zur Schlachtbank geführt.

Mein Kulturtipp zum Wochenende: zwei Ausstellungen von Gerhard Richter. In der Münchner Pinakothek der Moderne zeigt der 89-Jährige, der der Malerei entsagt hat, 54 Papierarbeiten, in Corona-Monaten gezeichnet, aquarelliert, abgerieben mit Frottagen. Die zweite Ausstellung im Kunsthaus Zürich ist Richters Passion der Landschaftsmalerei gewidmet. Zu sehen sind 140 Werke, beginnend mit „Elbe“-Zeichnungen des gebürtigen Dresdners aus dem Jahr 1957. Bilder mit Wasser, Garten und Gebirge kontrastieren mit Stadtwelten-Motiven sowie Abstraktionen. Richter selbst sagt: „Ich mag alles, was keinen Stil hat: Wörterbücher, Fotos, die Natur und meine Bilder.“

Foto: Reuters

Und dann ist da noch Markus Braun, Zentralfigur des Bösen in Presseartikeln, Büchern und Filmen zum Untergang von Wirecard. Der langjährige CEO mit dem selbst gepflegten Steve-Jobs-Touch wird nach unseren Informationen n Presseartikeln, Büchern und Filmen zum Untergang von Wirecard. in der zweiten Jahreshälfte mit zwei weiteren Managern angeklagt.

Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft München I lautet: gewerbsmäßiger Bandenbetrug, Untreue und Marktmanipulation. Im schlimmsten Fall drohen zehn Jahre Haft. Mitte 2022 könnte der Prozess starten. Wo aber das mutmaßliche kriminelle Mastermind Jan Marsalek abgeblieben ist, konnte auch Interpol bisher nicht ermitteln.

Ich wünsche Ihnen ein entspanntes Wochenende.

Es grüßt Sie herzlich

Ihr
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor

Verwandte Themen Annalena Baerbock Bert Rürup Robert Habeck Berlin Wirecard Jan Marsalek

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