Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
seit wenigen Stunden, seit 0 Uhr, ist Ungarn ein demokratischer Zombie-Staat der Europäischen Union. Mit Corona lässt sich in diesen Tagen alles begründen, auch die Einführung einer Autokratie, wie man am Beispiel Budapest sieht. Ministerpräsident Viktor Orbán hatte das Parlament zuvor mit der großen Mehrheit seiner Fidesz-Partei und anderer rechter Gruppierungen ein Notstandsgesetz verabschieden lassen. Nun gehört zum Neo-Orbanismus das Regieren per Dekret und das Strafrecht für kritischen Journalismus, alles zeitlich unbefristet.
Das Verbreiten von „falschen und verdrehten Nachrichten“, von denen sich die Regierung behindert fühlt, steht fortan unter hohen Strafen. So schafft man mit angeblicher Gesundheitsvorsorge die Meinungsfreiheit ab, nach einer Methode, die Montesquieu beschrieben hat: „Eine Regierung braucht nur unbestimmt zu lassen, was Verrat ist, und sie wird zur Despotie.“ Gegen dieses Ermächtigungsgesetz bleibt der EU-Kommission nur ein Eilverfahren beim Europäischen Gerichtshof.
Der nächste Sündenfall ist in Polen, einem weiteren ehemaligen kommunistischen Satellitenstaat, zu erwarten. Dort hält die ultrakonservative Machtclique um Jaroslaw Kaczynski trotz Corona-Einschränkungen an Präsidentschaftswahlen am 10. Mai fest – und deformierte dafür zuletzt auch noch im Eilverfahren das Wahlgesetz. Nun dürfen ältere Bürger über 60 und alle, die sich in Quarantäne befinden, allein per Briefwahl wählen. Dabei ist es eigentlich nicht gestattet, in den sechs Monaten vor dem Urnengang das Wahlgesetz zu ändern. Im Übrigen sind die Notabeln der Regierungspartei PiS kontinuierlich groß im faktisch gleichgeschalteten öffentlichen Fernsehen zu bewundern – die anderen müssen Wahlkampf im Homeoffice machen.
Die Politik der osteuropäischen Autokraten ist um einiges schlimmer als das Problem Corona selbst. Offenbar bringt die Viren-Katastrophe auch das Bild vom Wechsel der Paradigmen durcheinander, das der Soziologe Andreas Reckwitz jüngst entwickelt hat. Er sah, kurz vor dem „Outbreak“, künftig einen „regulativen“ oder auch „einbettenden Liberalismus“ aufkommen, als Reaktion auf einen überdynamischen, überschießenden Liberalismus, der wiederum – nach dem Reagan-Thatcher-Einschnitt – auf den alten „Sozial-Korporatismus“ gefolgt war. Liberal ist in Ungarn und Polen nichts mehr, korporativistisch dagegen vieles.
Wer sich beim Schutz vor Covid-19 an Virologen hält, hat ein Auswahlproblem. Nehmen wir zum Beispiel das Dauerthema Mundschutz. Soll er es da mit der Weltgesundheitsorganisation WHO halten, deren Vertreter Mike Ryan betont, es gäbe keinen spezifischen Beweis für einen Nutzen durch das generelle Tragen von Masken? Im Gegenteil, durch einen unsachgemäßen Gebrauch könne sogar Schaden entstehen. Oder soll man doch lieber den deutschen Podcast-Koryphäen Christian Drosten und Alexander Kekulé folgen, die unbedingt Mundschutz empfehlen? Wer drei Wissenschaftler fragt, erhält vier Meinungen, auch in der Frage aller Fragen – was Jena und Österreich nicht davon abhält, beim Shopping Gesichtsprotektion vorzuschreiben.
So unsicher die Virologen im Detail sind, so sicher ist der Versorgungsnahkampf um das Schutzmaterial. Auf dem Markt herrsche eine „Wild-West-Mentalität“, offenbart Markus Söder, erster Gesundheitsverteidiger Bayerns und derzeit „role model“ Deutschlands. Er fordert zur Beschaffung „nationale Notfallpläne“ und organisierte selbst eine wöchentliche Ration von einer Million Schutzmasken von Siemens; BMW fertigt nun täglich 10.000 Masken. Gebraucht werden deutschlandweit aber viel mehr: 115 Millionen Stück einfacher Art, fast 47 Millionen der höheren und 7,5 Millionen der höchsten Qualitätsstufe. Dass NRW-Ministerpräsident Armin Laschet bei einem Hospitalbesuch die Maske nur über dem Mund, jedoch nicht über der Nase trug, gehört zu den Spaß-Themen im Netz. Den Wunsch Laschets nach einem baldigen „Exit“ aus dem Corona-Shutdown kontert Söder mit einem Datum: 19. April. So lange gelten die neuen Ausgehlimits in Bayern, wie auch im Saarland.
Wie stark das Gift am Wirtschaftsstandort D wirkt, haben die fünf „Wirtschaftsweisen“ in einem Sondergutachten untersucht. Da man nichts Gesichertes über die Viren-Verbreitung und die aufkommenden Gesundheitsprobleme weiß, hat sich der geneigte Leser zwischen Szenarien zu entscheiden: minus 2,8 Prozent bei fünf Wochen Kontaktsperre, minus 5,4 Prozent bei sieben Wochen. Worst-Case-Berechnungen von 20 Prozent (Ifo-Institut) hält der Wirtschaftsweise Volker Wieland für überzogen: „Wir sind ja nicht im Krieg, nach dem der Kapitalstock hinterher zerbombt wäre und die Arbeiter an der Front sind.“ Die Front der heutigen Tage heißt Homeoffice.
Übel hat es 800 freie Filmschaffende aus Berlin und Brandenburg erwischt. Sie sollten bei zwei wichtigen Hollywood-Produktionen mitwirken, die 2020 zum Dreh in Deutschland anstanden. Es handelt sich um „Matrix 4“ und „Uncharted“. Angeblich instruierten Repräsentanten der US-Studios Warner Bros. und Sony Pictures die deutschen Kollegen bei der Studio Babelsberg AG, jedem zu kündigen: „Fire them all.“ Eine Babelsberg-Tochter handelte denn auch so bei den zeitlich befristeten Arbeitsverträgen, weshalb es nun rechtlichen Streit gibt. 90 Festangestellte kümmern sich unterdessen weiter um die Infrastruktur, ganz in der Hoffnung, Hollywood kommt „the day after tomorrow“ zurück.
Nachdem die Republik wie durch ein statistisches Wunder an der „technischen Rezession“ vorbeigeschrammt ist, führt an der faktischen Rezession nun kein Weg vorbei. Wie schlimm es wird, hängt von der Effizienz der regierungsamtlichen Milliardenhilfen ab. Sparkassen-Präsident Helmut Schleweis zeigt sich im Handelsblatt-Gespräch beunruhigt: „Manchen Unternehmen wird man mit den bestehenden Förderprogrammen nicht helfen können.“ Beim Kreditprogramm der Staatsbank KfW erhielten nur Firmen ein Darlehen, die es voraussichtlich innerhalb von fünf Jahren zurückzahlen könnten – dies sei aber aktuell bei vielen Firmen aus Branchen wie Verkehr, Logistik, Touristik und Luftfahrt nicht der Fall, so Schleweis. Der Mann von der Sparkasse plädiert für direkte Zuwendungen oder Kreditgarantien des Staates.
Positive Nachrichten gibt es in Italien, wo die Zahl neuer Infektionsfälle nur um 4050 anstieg, der niedrigste Zuwachs seit dem 17. März. Frankreich dagegen verzeichnet mit 418 Toten an einem Tag den höchsten Mortalitätswert. Weltweit werden inzwischen rund 785.000 Fälle registriert, mehr als 37.000 Menschen sind gestorben.
Hoffnung in den Kampf gegen Corona bringen da zwei US-Medizinkonzerne ein. So kündigt Johnson & Johnson an, ein Serum zu entwickeln, das in den ersten Monaten 2021 verfügbar sein könnte. Man kooperiere mit der US-Regierung und investiere eine Milliarde Dollar in den Stoff. Tests an Menschen sollen im September beginnen, erklärt der Weltmarktführer. Abbott Laboratories wiederum startet einen Schnelltest, der fünf Minuten dauert und für den man ein tragbares Gerät in Toaster-Größe braucht. Die Innovationen zur Gesundung der Menschheit belohnte die Börse mit auffallenden Kursgewinnen.
Und dann ist da noch der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis, der in den nächsten beiden Monaten die Hälfte seines Gehalts einem Anti-Corona-Fonds spendet. Das verlangt der Chef der Nea Dimokratia auch von Mitgliedern seiner Regierung sowie von anderen Parteien: „Wir sind alle gleich von der Gefahr für unsere Gesundheit bedroht. Aber im Kampf dagegen muss jeder nach seinen Möglichkeiten beitragen.“
Gleich auf 70 Prozent des Gehalts verzichten Weltfußballer Lionel Messi und die anderen Stars des FC Barcelona. Scharf wandte sich der Argentinier dabei gegen Berichte, die offenbar aus der Klubzentrale gesteuert wurden, wonach sich die Profis zunächst gegen den Pay Cut gewehrt hätten. Einige im Klub hätten versucht, so Messi, „Druck auf uns auszuüben, damit wir etwas tun, was wir ohnehin tun wollten“.
Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Tag, an dem sie wirklich das tun, was sie tun wollen. Zum Lachen empfiehlt sich im Netz der Loriot-Sketch „Feierabend“, über dessen hebräische Version ganz Israel derzeit lacht. Da möchte „Hermann“, agitiert von seiner in der Küche werkelnden Frau „Berta“, einfach nur im Sessel die Stille genießen. Immer wieder bringt der Mann mit der Knollennase sein Mantra hervor: „Ich will hier nur sitzen.“ Bis er zum Schluss eben doch brüllt – was beweist, dass das Leben manchmal schreiend komisch ist.
Es grüßt Sie herzlich wie immer Ihr
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
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