Sondierungsgespräche Wie Künstliche Intelligenz bei den Koalitionsverhandlungen helfen kann

Viele Parteien, viele Versprechungen – aber wie kriegt man sie zusammen?
Berlin Es dauert weniger als eine Minute, bis sich die Künstliche Intelligenz (KI) durch die Irrungen und Wirrungen deutscher Politik gewühlt, Muster erkannt und Unterschiede festgestellt hat. Die Software von Sven Körners Start-up Thingsthinking und Jonas Andrulis Start-up Aleph Alpha hat die Wahlprogramme von SPD, CDU, Grünen und FDP miteinander verglichen, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten herauszufiltern.
„Bei fast 800 Seiten Text benötigt die KI knapp 30 Sekunden inklusive der Aufbereitung der Daten für den Menschen“, heißt es von den Unternehmen. Bei Koalitionsverhandlungen, die immer länger dauern und bei mehr als zwei beteiligten Parteien immer komplexer werden, kann KI bei der Aufbereitung von Inhalten helfen, versprechen die beiden Tech-Start-ups.
Bedarf für eine zügigere Regierungsbildung gäbe es tatsächlich: Mit Grausen denken alle Beteiligten an das Jahr 2017, als die Koalitionssuche 172 Tage dauerte. Und in diesem Jahr werden die Verhandlungen mit vier potenziell beteiligten Parteien wohl kaum einfacher.
Während sich die Parteispitzen mit den großen Streitthemen auseinandersetzen, müssen die Verhandlungsteams für einen detaillierten Koalitionsvertrag auch inhaltliche Kleinigkeiten kennen und verhandeln. Eine Aufgabe, bei der Künstliche Intelligenz unterstützend mitwirken könne, versprechen die Start-ups.
Normalerweise komme die Spracherkennungssoftware bei Rückversicherern und in Anwaltskanzleien zum Einsatz, sagt Sven Körner von Thingsthinking. „Wir waren vor der Wahl mit den Parteien in Kontakt und sind auch auf positive Resonanz gestoßen“, sagt Körner „danach ist die Idee allerdings im Politikalltag untergegangen.“
Um zu zeigen, was die KI kann – auch bei Koalitionsverhandlungen –, hat er die Ergebnisse der Analyse trotzdem kostenfrei auf seiner Website veröffentlicht. Eine intelligente Spracherkennungssoftware hat dafür aus jedem Satz des Wahlprogramms die Bedeutung der Aussage extrahiert. Nicht nur wortgleiche Äußerungen, sondern auch semantische Überschneidungen zwischen den Parteien erkennt die KI.
Tabelle mit grünen und gelben Themen
In einem zweiten Schritt listet die Software die Ergebnisse in einer Excel-Tabelle nach Themen sortiert nebeneinander auf: Gleiche Ansätze werden grün markiert und eher konträre Meinungen gelb – jede Partei kann dann aus ihrer Sicht die Schnittmengen mit den anderen prüfen.
Auch einen Prozentsatz der Überschneidungen berechnet die KI. So kommt die Software bei Grünen und FDP beim Thema Alterssicherung und Rentenniveau auf nur 64 Prozent Gemeinsamkeit, beim Thema Schaffung eines europäischen Kriminalamts hingegen auf 96 Prozent.
„Bei Grünen und FDP hat die KI 750 thematische Punkte identifiziert, davon waren sich die Parteien in 220 einig und hatten in 330 Fällen zumindest ähnliche Ansichten“, erklärt Körner. Es blieben wesentlich weniger Themen übrig, über die Menschen noch verhandeln müssten.
Auch eine Visualisierung und einen Vertragstext kann die KI ausformulieren. Da heißt es zum Beispiel bei einem Prototyp der Ampelkoalition zum Thema Cannabis: „Anstelle von Strafverfolgung werden wir die Prävention, Aufklärung, Sucht- und Drogenberatung sowie die Hilfe zur Selbsthilfe stärken.“ Ein Vertragswerk, erstellt von einer Maschine.
Körner fasst den Nutzen der KI mit dem Satz zusammen: „Wenn ich einen Cappuccino will, muss ich nicht noch eine Kuh melken.“ Soll heißen, dass die ersten Schritte hin zu einem fertigen Produkt von der Maschine übernommen werden könnten. Gleichzeitig zeigen sich bei den Ergebnissen auch noch einige Unschärfen. Alle komplexen Zusammenhänge des politischen Taktierens versteht die Maschine dann eben doch nicht.
Obwohl die CDU eine Legalisierung illegaler Drogen in ihrem Wahlprogramm ablehnt, heißt es im automatisch generierten Vertragswerk zu einer Jamaika-Koalition: „Die Bundesregierung wird das Betäubungsmittelgesetz dahingehend ändern, dass der Erwerb, Besitz und Konsum von Cannabis zu eigenen Zwecken nicht mehr unter Strafe stehen.“
Möglich wäre es zwar, dass sich die Union von FDP und Grünen in Gesprächen von ihrer Position abbringen lässt, das läge aber in der Hand menschlichen und taktischen Verhandlungsgeschicks, das eine KI nicht zu simulieren vermag.
Es braucht ein menschliches Auge
Auch Körner räumt ein, dass solche Texte zwar als Grundlage und Anregung sinnvoll seien, von einer „blinden Nutzung“ rät er allerdings ab. „Man sollte nicht denken, das macht die KI jetzt allein“, so Körner. Am Ende braucht es doch noch ein menschliches Auge, um die sinnvollen von den nicht so sinnvollen Vorschlägen zu trennen.
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Auch Simon Hegelich, Professor für Politik- und Datenwissenschaften der Technischen Universität München, weist darauf hin, dass es in Koalitionsverhandlungen gerade darum gehe, „im Dialog herauszufinden, wer welche Machtposition behaupten kann“ – dabei könnten KI-Anwendungen zum jetzigen Zeitpunkt nicht helfen.
Allerdings ließen sich Themen identifizieren und automatische Texte erstellen. Zum Beispiel für Zusammenfassungen von Arbeitsgruppenergebnissen bei den Verhandlungen sei es möglich, auf KI zurückzugreifen. Schlechte Nachrichten also für Annalena Baerbock (Grüne), Christian Lindner (FDP) und Co.: So ganz wird ihnen auch Künstliche Intelligenz die mühsame Sondierungsarbeit der kommenden Monate wohl nicht abnehmen können.
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