Museum Ludwig: Ukrainische Moderne: Ausstellen, um zu sichern und zu korrigieren

Das Großformat „Schärfen der Sägen“ malte der „Picasso der Ukraine“ 1927 in glühenden Farben. Quelle: Nationales Kunstmuseum der Ukraine
Köln. Wir haben Fehler gemacht. Menschen im Westen sprechen in Museen und Galerien seit etwa sechzig Jahren von der „Russischen Avantgarde“. Etwa wenn wir Kasymyr Malewytsch oder Alexandra Exter und ihr kubofuturistisches oder konstruktivistisches Werk vorstellen. Doch das ist falsch, sachlich, politisch, moralisch.
Malewytsch und Exter sind ukrainische Kunstschaffende, die die Sowjetpropaganda dereinst vereinnahmte. Deren Werk und Erfindungsgeist Wladimir Putin heute auslöschen möchte.
Das Nationale Kunstmuseum der Ukraine und das Museum für Theater-, Musik- und Filmkunst der Ukraine haben neun Monate nach Russlands Überfall auf die Ukraine Teile ihrer kostbaren Bestandssammlung außer Landes gebracht.
Damit der nationale Kunstschatz nicht im Bombenhagel zerberstender Museumsmauern begraben werde. Einer der Gastgeber der Tournee ist noch bis Ende September das Museum Ludwig in Köln. Weil alle Ausstellungsflächen schon mit lang geplanten Sonderausstellungen belegt waren, wurden kurzerhand drei Kabinette in der Dauerausstellung freigeräumt.
Das ist zwar zu wenig, hat sich aber gleichwohl gelohnt. Nicht nur den Organisatoren gegenüber, den Kunsthistorikern Konstantin Akinsha, Katia Denysova und Olena Kashuba-Volvach, sondern auch für die Besucher.
Denn die Bilderschau „Ukrainische Moderne 1900-1930“ öffnet mit ca. 80 Werken jedem Besucher die Augen. Für Schönheit und Mut der frühen Formexperimente. Für das Kennenlernen von Künstlerinnen und Künstlern, die hierzulande noch zu entdecken sind wie Sarah Shor und Marko Epschtejn. Für Kunstschaffende, die nicht wie Exter und Malewytsch, seit den 1960er-Jahren regelmäßig in Westeuropa präsentiert wurden.
Die Geschichte
Sie schafft ein Bewusstsein dafür, dass wir uns alle abgewöhnen sollten, unbedacht und pauschal von „russischer Avantgarde“ zu sprechen. Denn die, die damit gemeint waren, sind neben den russischen Künstlern auch ukrainische, polnische oder jüdische Avantgardistinnen. Statt Einheit geht es um eine transnationale Avantgarde, die geprägt ist von Diversität.

Den „Bühnenentwurf für Dame Kobold für das Kunsttheater Moskau“ schuf die führende Avantgardistin 1924. Quelle: Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln
„Die Ausdrucksformen dieser Moderne entwickelten sich nicht wie im Westen Schritt für Schritt, sondern mehr oder weniger gleichzeitig“, sagt Kuratorin Katia Denysova dem Handelsblatt. Spätimpressionistisches steht da neben Kubismus, Futurismus und Suprematismus, jener Abstraktion, die das Geistige in der Kunst mit strenger Geometrie zu fassen sucht.
Die Moderne entfaltete sich angesichts zusammenbrechender Imperien, des Ersten Weltkriegs, der Revolutionen von 1917 mit der anschließenden kurzlebigen Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik zwischen 1917 und 1920 und der späteren Gründung der Sowjetukraine. Zentren der Moderne sind Kiew, wo 1917 eine erste Kunstakademie eröffnet wird, Odessa und Charkiw.
Westliche Sammler als Anker
Anknüpfungspunkte für das Kriegs bedingt logistisch komplizierte, heutige Gastspiel sind die frühen Sammler dieser transnationalen Avantgarde: Hans Heinrich Thyssen Bornemisza mit dem von seiner Witwe in Madrid gegründeten Museum und der Schokolade-Fabrikant Peter Ludwig in Köln.
In Spanien war eine größere Auswahl bereits Ende letzten Jahres zu sehen. Köln und die kommenden Stationen in Brüssel und London zeigen knapp gehaltene Einblicke in die ukrainische Kunstgeschichte der Moderne. Ein Langversion wird dagegen ab Februar 2024 das Belvedere in Wien präsentieren.
Verblüffende Ästhetik
In Köln ergänzen Leihgaben des Großsammlers Ludwig das ukrainische Gastspiel punktuell. Aber auch der Schweizer Verleger Michael Ringier steuert mehrere verblüffende Arbeiten aus seiner Sammlung bei, etwa ein „Experimentelles Stillleben“ in Komplementärfarben von Oleksandr Bohomazow. Der Maler, der als „ukrainischer Picasso“ gilt, und lange systematisch übersehen wurde, ist eine der wichtigen Entdeckungen dieser Ausstellung.
Eben skizziert Bohomazow Alltagsgegenstände in kubistischen Facetten, dann taucht er ein Kistchen, eine Flasche und eine Dose in fast popartigen Farben – gemalt 1927/28. Frei von den naturalistischen sogenannten Lokalfarben, malt er 1927 eine Hommage an die Landarbeiter in glühenden Farben. Das Großformat „Schärfen der Sägen“ ist eine einziger Lobgesang in Rosa, Ocker und Gelb.
Die Gruppe der sogenannten „Bojtschukisten“ fasziniert mit flacheren Figuren, gedämpftem Kolorit und schlichten Landschaften. Mychajlo Bojtschuk hatte in Wien, Krakau, München und Paris studiert. Der Galizier verstand Kunst als nationales Kulturgut und nicht als Ware.
Seine Gemälde verbinden byzantinische Kunst, italienische Renaissance und ukrainische Volkskunst. An seiner Kiewer Akademieklasse unterrichtete er Mosaik, Fresko- und Temperamalerei.
Tragisches Schicksal
Der junge Staat vergab in den 1920er-Jahren Aufträge für Wandarbeiten. In den Fresken der Bojtschukisten durchdringen sich Folklore und avantgardistische Formensprache auf eine für ukrainische Kunst typische Weise.
Doch unter Stalins „Säuberungs“-Kampagne wurden die Gruppenmitglieder als Vertreter eines „bürgerlichen Nationalismus“ diffamiert und ins Visier genommen. „Bojtschuk, seine Frau Sofia Nelepynska-Bojtschuk, Iwan Padalka und Wasyl Sedljar wurden hingerichtet,“ berichtet der Katalog. Wer nicht liquidiert wurde, kam in Straflager.

Das Glasbild bezieht sich auf das konstruktivistische „Haus der Staatlichen Industrie“. Es wurde zum Symbol bolschewistischer Macht in der Ukraine. Für Daria Koltsova spiegelt die moderne Architektur auch ihre Suche nach Identität – trotz der Entwertung durch die Sowjetmacht. Foto: Daria Koltsova
Viele ihrer Kunstwerke wurden zerstört. Nur wenige konnte unter größten Gefahren gerettet werden. Ab 1955 wuchs wieder Interesse an dieser aus ideologischen Gründen diskreditierten Kunst in der Sowjetukraine, etwas später auch in den USA und in Europa unter dem, wie wir gesehen haben, irreführenden Label „Russische Avantgarde“.
Bruchstellen der Identität
Gegenwart und Vergangenheit überlagern sich in dieser Ausstellung und ihrer Genese wie selten sonst. Ausdruck stolzer Selbstbehauptung einer jungen Ukrainerin und eine Verbeugung vor der Vergangenheit ist eine große Glasinstallation von Daria Koltsova. Die 1987 in Charkiw geborene Künstlerin bezieht sich in „Zusammengesetzt“ auf das berühmte konstruktivistische „Haus der Staatlichen Industrie“. Ab 1925 wurde der „Derschprom“-Bau in Charkiw errichtet.
„Der seinerzeit größte Stahlbetonbau Europas beherbergte Büros und Ministerien der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Das Gebäude wurde zum Symbol bolschewistischer Macht in der Ukraine,“ schreibt Kuratorin Yuliia Berdiiarova im Wandtext.
Für Daria Koltsova dient die moderne Architektur auch ihrer Suche nach Identität - der Entwertung durch die Sowjetmacht zum Trotz. So komplex ist Geschichte.
In der Reihe „Hier und Jetzt“: „Ukrainische Moderne 1900-1930“. Bis 24. September im Museum Ludwig in Köln.
Katalog im Verlag Walther und Franz König, 25 Euro. Der Katalog unterliegt einem Denkfehler: Fehlfarben und Überblendungen von Schwarz-weiß in ein Silber-Weiß sind möglicherweise Symbol für das aktuelle Kriegsgeschehen. Doch sie machen unlesbar, was als gut lesbares Dokumentarfoto Leserinteresse wecken könnte.


Weitere Tournee-Stationen: Von 19. Oktober bis 28. Januar 2024 in den Königlichen Kunstmuseen in Brüssel.
Von 23. Februar bis 2. Juni 2024 im Belvedere in Wien.
Von 28. Juni bis 18. Oktober 2024 in der Royal Academy in London
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