Gastkommentar: Wir brauchen eine Diktatur der Vernunft

Wir müssen lernen, mit dem Krankheitserreger zu leben, meint Harald Christ.
Können Zahlen lügen? Eine banale Frage, auf die es nur eine vernünftige Antwort geben kann: natürlich nicht. Die Mathematik ist unbestechlich, frei von Emotionen. Logisch, binär. Es gibt nur zwei Möglichkeiten – richtig oder falsch. Wer allerdings versucht, komplex-analoge Prozesse in Zahlen zu bändigen, der stößt zwangsläufig auf Hindernisse – wie die derzeitige Debatte um die richtige Exit-Strategie in Sachen Corona-Pandemie beweist.
Je nach Interessenlage lässt sich mit den nüchternen Daten über Neuinfektionen, Ansteckungsrate oder Verdopplungszeiten vieles belegen – und das Gegenteil gleich mit: die unbedingte Notwendigkeit eines rigiden Shutdown-Regimes ebenso wie die Richtigkeit einer raschen Lockerung der derzeitigen Einschränkungen.
Hilfreich bei der Interpretation der allenfalls für Virologie-Experten, also in akademischer Nahaufnahme, lesbaren Mikrodaten ist es daher, ein paar Schritte zurückzutreten, das Objektiv von Makro auf Weitwinkel zu drehen und sich ein paar Wahrheiten zu vergegenwärtigen.
Die wichtigste Einsicht besteht in der Tatsache, dass wir das Coronavirus auf kurze Sicht weder besiegen noch ausrotten werden. Nicht in drei Wochen und auch nicht in drei Monaten. Vielmehr müssen wir lernen, mit dem Krankheitserreger zu leben und sein zerstörerisches Werk in einem möglichst beherrschbaren Rahmen zu halten.
Dabei gilt es, der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Demokratie und der sozialen Stabilität so wenig Schaden zuzufügen wie irgend möglich. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat diese Forderung am vergangenen Wochenende in einen bemerkenswerten Satz gekleidet, der nur auf den ersten Blick gefühlskalt, sogar inhuman klingt. Das Gebot des Schutzes menschlichen Lebens, sagte Schäuble, sei nicht absolut zu verstehen. Keine Conditio sine qua non. Es sei eher relativ, also in Beziehung zu anderen Werten zu verstehen.

Harald Christ ist Chairman der Christ & Company Consulting und übt verschiedene Aufsichtsrats- und Beiratsmandate aus. Der Finanz- und Wirtschaftsexperte ist Mitglied der FDP.
Was so schwer verdaulich daherkommt, ist ebenso richtig wie richtungsweisend. Niemandem, und das ist die innere Wahrheit des Schäuble-Satzes, ist damit gedient, wenn wir den Grundlagen unseres Gemeinwesens womöglich irreparablen Schaden zufügen. Selbst wenn es in der guten Absicht geschieht, Gesundheit und Leben der Bürger zu schützen.
Gesellschaftlicher Konsens lebt von der Akzeptanz der Regeln durch die Bürger. In dieser Hinsicht kann sich Deutschland auch im internationalen Vergleich bisher wirklich sehen lassen. Ob das allerdings auch in den kommenden Monaten so bleiben wird, hängt entscheidend davon ab, wie die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft die Regeln weiterentwickeln. Dass dies tatsächlich nur im Sinne von Logik und Vernunft geschieht, daran sind Zweifel erlaubt.
Gelingt es, die Kundschaft beim Einkauf auf Abstand zu halten?
Einer (unveröffentlichten) Studie zufolge sind die gefährlichsten Infektionsherde – vor allem in Städten – der öffentliche Nahverkehr, große Menschenansammlungen und private Kontakte. Eine Untersuchung an Coronatoten in Hamburg kam überdies zu dem Schluss, dass fast alle Todesopfer bereits vor der Infektion unter signifikanten Vorerkrankungen litten.
Was heißt das für den praktischen Umgang mit der Pandemie, für die Entscheidung über Vor oder Zurück bei den aktuellen Beschränkungen? Es bedeutet beispielsweise, dass die Debatte um die erlaubte Quadratmeterzahl für Verkaufsflächen in etwa so sinnvoll ist wie die unterschiedliche Behandlung von Pferd und Esel bei der Mehrwertsteuer.
Entscheidend sollte vielmehr die Frage sein: Gelingt es, die Kundschaft beim Einkauf auf Abstand zu halten und Infektionen damit zu unterbinden? Und: Was kann getan werden, damit Risikopatienten möglichst wenig Kontakt zu anderen Personen haben? Dass eine volle U-Bahn – selbst mit Atemmaske – sicherer ist als die Großfläche eines Kaufhauses, auf der sich ein paar Dutzend Kunden auf vorgeschriebenen Laufwegen bewegen, dafür liefert die Logik nicht den geringsten Beleg.
Nun liegt es in der Natur der Menschen, dass jeder Betroffene für die Lösung seines individuellen Problems Argument und Unterstützer sucht – bis hin zu so grotesken Inszenierungen wie einem drittklassigen Instagram-Sternchen, das sich mithilfe der Freunde vom Boulevard für die sofortige Wiedereröffnung der Tattoo-Studios starkmacht...
Entscheidend für das Ja oder Nein darf daher nicht sein, wer oder welche Branche am lautesten trommelt. Einzig das Kriterium, wer den unter den gegebenen Umständen bestmöglichen Schutz ermöglicht und anbietet, ist vernünftig und angemessen.





Es muss gelingen, und das ist die eigentliche Aufgabe, der die Politik sich zu stellen hat, die binäre Welt der Zahlen mit der analog-vielschichtigen gesellschaftlichen Realität zu synchronisieren. In manchen Medien war in den vergangenen Wochen die Warnung vor einer „Diktatur der Wissenschaft“ zu lesen. Das klingt ebenso hilflos wie hysterisch.
Was es in einer Demokratie allerdings braucht – und das nicht nur in Zeiten von Corona –, ist etwas anderes: eine Diktatur der Vernunft!





