Handel: Sind mehr drohende Insolvenzen gut oder schlecht für die Wirtschaft?


Vielen Händlern droht die Pleite. Zu den Folgen für die Wirtschaft sind unsere Autoren geteilter Meinung.
Pro: Warum Insolvenzen das Wirtschaftswachstum treiben können
Von Michael Scheppe
Viele Verbraucher müssen zu Weihnachten sparen: Preisbereinigt erwartet der Handel 5,5 Prozent weniger Umsatz im Weihnachtsgeschäft als im Vorjahr. Eigentlich machen Händler in den letzten beiden Monaten ein Fünftel ihres Jahresgeschäfts. Doch gerade ist mehr als jeder zweite mit dem Geschäft unzufrieden.
Für den Handel und die Modebranche dürfte die Zahl der Insolvenzen weiter nach oben gehen. Schon in den ersten neun Monaten gab es hier doppelt so viele Pleiten von Firmen mit mehr als zehn Millionen Euro Umsatz wie im Vorjahreszeitraum. In der Gesamtwirtschaft stieg die Zahl nur um 16 Prozent.
So hart das klingen mag: Mehr Insolvenzen können für die Wirtschaft auch eine gute Nachricht sein. Natürlich ist es für Betroffene ein trauriges Schicksal, den Laden schließen zu müssen. Auch Lieferanten und Vermieter können darunter leiden. Doch im Handel gehen vor allem kleinere Firmen insolvent – die nachgelagerten Folgen sind überschaubar.
Was stärker wiegt: Wenn schwache Firmen den Markt verlassen, werden für die Volkswirtschaft Ressourcen frei, die viel effizienter eingesetzt werden können. Mehr Insolvenzen führen angesichts des Fachkräftemangels schon längst nicht mehr zu einer höheren Arbeitslosigkeit.
Kreative Zerstörung durch Insolvenzen
Nun wird ein Verkäufer nicht gleich zum Ingenieur – und das muss er auch gar nicht. In vielen Fällen können entlassene Arbeitskräfte nach einer Umschulung zu Firmen wechseln, die viel produktiver sind. Unserem Wohlstand kann das nur guttun.
Während der Pandemie wurden Händler mit Milliardengeldern vom Staat gestützt. Bei diesem externen Schock war das sinnvoll. Geholfen hat es allerdings kaum: Viele Pleiten im Handel wurden durch die Hilfen nicht verhindert, sondern nur verschoben.
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Denn viele Händler haben versäumt, ihr Geschäft anzupassen. Vielen fehlt der Mut, ihren Gemischtwarenladen umzubauen und sich zu überlegen, welche Zielgruppe sie ansprechen möchten. Rund die Hälfte verzichtet auf einen Onlineshop – und damit einen wichtigen Absatzkanal.
Insolvenzen können zu einer kreativen Zerstörung und mehr Innovationen führen. Dazu braucht es nicht das große Geschäft. Eine Untersuchung der 1000 größten Onlineshops zeigt, dass die 500 kleinsten überdurchschnittlich stark gewachsen sind – weil sie es verstanden haben, ihre Kunden zielgenau anzusprechen.
Solch zukunftsfähige Firmen können auch nach Insolvenzen entstehen. Sie lösen dann jene ab, die mit einem veralteten Geschäftsmodell die Wirtschaft bremsen.
Contra: Viele Pleite-Händler wurschteln auf Staatskosten weiter
Von Christoph Schlautmann
Der jüngsten Pleitewelle im deutschen Einzelhandel Positives abzugewinnen, ist fragwürdig. Insolvenzen machen Ressourcen für die Volkswirtschaft keineswegs frei, sie zerstören sie zunächst. Und das gilt nicht nur für Staatskassen etwa bei der Bundesagentur für Arbeit, die stets über drei Monate hinweg die Insolvenzausfallgelder für die Beschäftigten übernehmen muss.
Hinzu kommt, dass strauchelnde Händler üblicherweise ihre Waren per Dumpingpreis anbieten, um in der Not liquide zu bleiben. Wettbewerber, die im Preiskampf mitziehen, erleiden Kollateralschäden. Auch Lieferanten und Handwerker, die auf ihren Rechnungen sitzen bleiben, droht die Folgeinsolvenz.
Ein Schuldnerturm, der Zechprellern noch bis ins 19. Jahrhundert drohte, muss es ja nicht gleich sein. Aber etwas mehr gesetzliche Härte gegenüber Unternehmen, die offene Rechnungen hinterlassen, würde deren Besitzer stärker in die Verantwortung nehmen - und so verhindern, dass viele das Insolvenzrecht leichtfertig als Teil ihrer Unternehmensstrategie missbrauchen.
Das Insolvenzrecht gehört verschärft
So aber verhindert das deutsche Insolvenzrecht seit Jahren mit wachsendem Erfolg, dass es in der heimischen Krämergilde überhaupt zu einer Bereinigung kommt.
Die Warenhäuser von Karstadt und Kaufhof, aber sie längst nicht allein, geben dafür ein treffliches Beispiel. 2009 rutschte erstmals die damalige Arcandor-Tochter Karstadt in die Pleite, die sich, bevor sie einen neuen Investor fand, von 2,6 Milliarden Euro an Außenständen befreite.
Elf Jahre später ging es im Konzernverbund mit dem einstigen Wettbewerber Kaufhof erneut in die Insolvenz – und in einen weiteren Neustart mit einem Schuldenerlass von 2,2 Milliarden Euro.

Bei Deutschlands Warenhäusern gehören Insolvenzen fast schon zum Geschäftsmodell.
Im Oktober 2022 schlüpfte der nun unter Galeria firmierende Händler ins nächste Schutzschirmverfahren, das die Gläubiger 1,3 Milliarden Euro kostete. Die Hälfte davon kam aus den Kassen des Staates, der erneut für drei Monate die Gehälter per Insolvenzausfallgeld zahlen musste und dessen Kreditbürgschaften platzten.
Auch Deutschlands größte Modekette, die Düsseldorfer Peek & Cloppenburg, ist trotz ihres verlustreichen Geschäftsmodells keineswegs vom Markt verschwunden. Vor dem Schutzschirmverfahren im Frühjahr sollen die Gesellschafter Vermögenswerte in die Schweiz transferiert haben, wie Medien berichten. Anschließend musste der Staat den Meldungen zufolge auf Forderungen in dreistelliger Millionenhöhe verzichten. Nun läuft der Betrieb weiter. Ebenso wie bei einstigen Pleitefirmen wie Sport Voswinkel, dem Schuhhaus Görtz oder dem Modemulti Esprit.
Oft sind es sogar Tricks, etwa überhöhte Mieten, mit denen die Gesellschafter vor der Insolvenz Cash aus den Handelsfirmen ziehen, um mit dem Geld die Kassen etwa ihrer getrennt geführten Immobilien zu füllen.



Schöpferische Zerstörung? Ein Abschneiden alter Zöpfe, das frei nach dem Ökonomen Joseph Schumpeter den Weg ebnet für erfolgreichere Geschäftsmodelle? Nach deutschem Insolvenzrecht bleibt dies kaum mehr als ein frommer Wunsch.
Erstpublikation: 05.12.2023, 04:09 Uhr.





