Kommentar: Der Euro kann nur überleben, wenn Deutschland einer gemeinsamen Schuldenaufnahme zustimmt

Inzwischen hat der durch das deutsche EZB-Urteil düpierte Europäische Gerichtshof die Karlsruher Richter daran erinnert, dass auch sie sich dem EU-Recht unterordnen müssten.
Wie unter einem Brennglas kann man in diesen Tagen Wunsch und Wirklichkeit Europas beobachten. Erst stürzt das Bundesverfassungsgericht mit seinem historischen EZB-Urteil die Europäische Union in ihre nächste Existenzkrise. Kurz danach feiern Politiker den 70. Jahrestag der berühmten „Schuman-Rede“, mit der Frankreichs früherer Außenminister am 9. Mai 1950 den Grundstein für die europäische Einigung legte.
Aus diesem Anlass warnte Wolfgang Schäuble zusammen mit den Parlamentspräsidenten Frankreichs, Spaniens und Italiens davor, dass sich „in vielen Mitgliedstaaten diejenigen stärker Gehör verschaffen, die den Sinn des europäischen Integrationsprozesses bezweifeln.“
Gemeint damit waren die nationalistischen Populisten. Der Vorwurf trifft aber auch auf Deutschland zu. Hand in Hand blockieren die Regierung in Berlin und die Verfassungsrichter in Karlsruhe erst eine gemeinsame europäische Fiskalpolitik für den Wiederaufbau nach der Corona-Pandemie und legen danach die Geldpolitik der EZB an die deutsche Kette. Damit sind die beiden entscheidenden Waffen stumpf, die eine Währungsunion nicht nur, aber vor allem in Krisenzeiten zum Überleben benötigt.
Möglich ist dieser doppelte Affront gegen Europa nur, weil Deutschland als größte Volkswirtschaft Europas im Zweifel auf das Recht des Stärkeren pocht. Selbst dem gelernten Juristen Schäuble, der als Bundesfinanzminister die EZB-Politik oft kritisch gesehen hat, ist es angesichts dieser Machtpolitik mulmig zumute: Es könne gut sein, dass in anderen EU-Mitgliedstaaten nun auch der Bestand des Euros infrage gestellt werde, sagte der CDU-Politiker und fügte hinzu: „Diese Situation macht niemandem Freude.“
Inzwischen hat der durch das deutsche EZB-Urteil düpierte Europäische Gerichtshof (EuGH) die Karlsruher Richter kühl daran erinnert, dass auch sie sich dem europäischen Recht unterordnen müssten. EZB-Chefin Christine Lagarde kündigte an, die Zentralbank werde unbeirrt weiterhin tun, „was nötig sei“, um ihr Mandat zu erfüllen.
Damit widerspricht die Französin ausdrücklich dem Wunsch der Karlsruher Richter, nur das zu tun, was verhältnismäßig ist. Auch in Brüssel hat man inzwischen die Gefahren aus Karlsruhe erkannt.
Die deutsche Kommissionschefin Ursula von der Leyen droht völlig zu Recht Berlin mit einem Vertragsverletzungsverfahren und bekommt dafür parteiübergreifend Beifall von Europapolitikern der SPD und der CDU.
Gefahr droht Europa durch ökonomische Folgen des Urteils
Die größte Sorge der EU ist es im Moment, dass sich die nationalistischen Regierungen in Polen und Ungarn im politischen Windschatten von Karlsruhe über europäisches Recht hinwegsetzen und EuGH-Urteile gegen ihre autoritäre Politik schlicht ignorieren. Die größte Gefahr droht Europa jedoch durch die ökonomischen Folgen des Karlsruher Urteils.
Dass die Euro-Zone keine gemeinsame Fiskalpolitik besitzt, ist seit der Geburtsstunde der Gemeinschaftswährung einer ihrer größten Konstruktionsfehler. Dieser Mangel wiegt in Zeiten der Not besonders schwer.
Das galt schon für die Schuldenkrise 2010 und gilt noch mehr für die Corona-Pandemie. So konnte sich die EU bislang nicht auf ein gemeinsames Finanzierungsinstrument für den Wiederaufbau nach der Krise einigen.
Was Europas Finanzminister nicht leisten können oder wollen, muss die EZB mit ihren Anleihekäufen ausbügeln. Ohne den Feuerwehreinsatz der Notenbank wäre die Währungsunion längst an ihrer ökonomischen Divergenz zwischen Nord und Süd zerbrochen. Wer ein Land wie Italien aus guten politischen und wirtschaftlichen Gründen in der Währungsunion halten will, muss Europa und seinen Institutionen dafür die nötigen Mittel in die Hand geben.
Deutschland konnte diese Erkenntnis bislang verdrängen, weil die EZB die oft desaströsen Folgen der egoistischen Fiskalpolitik Berlins aufgefangen hat. Draghis „whatever it takes“ war die Kehrseite deutscher Austeritätsmedizin, die Deutschland in der Schuldenkrise ganz Europa verordnet hat. Geht es nach dem Willen der Karlsruher Verfassungsrichter, soll es das so in Zukunft nicht mehr geben.
Diese politische Botschaft der EZB klarzumachen dürfte Deutschlands Verfassungsorganen nicht ganz leichtfallen. Waren es doch vor allem die Deutschen, die auf der politischen Unabhängigkeit der europäischen Notenbank bestanden haben.






Berlin muss nun Farbe bekennen. Halten sich Bundesregierung und Bundesbank an die Buchstaben des Karlsruher Urteils, kann der Euro langfristig nur überleben, wenn die Bundesregierung einer gemeinsamen Schuldenaufnahme für den Wiederaufbaufonds durch die EU zustimmt.
Das würde eine gesunde Lastenverteilung zwischen Fiskal- und Geldpolitik sogar befördern. Bleibt Deutschland jedoch beim doppelten Veto und verweigert den europäischen Institutionen die notwendigen Mittel, um die Euro-Zone nachhaltig zu stabilisieren, taumelt die Gemeinschaftswährung einer neuen Zerreißprobe entgegen.
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