Kommentar: Die neue Regierung muss die Finanzierungs-Zeitbombe in der Sozialversicherung entschärfen

Eine Ampelkoalition darf in der Sozialpolitik nicht die Generationen gegeneinander ausspielen.
Zwar ist aus den Ampel-Sondierungen bisher wenig Konkretes nach außen gedrungen. Doch haben SPD, Grüne und FDP bereits klargemacht, welche wichtigsten Herausforderungen sie für die Zukunft sehen: Digitalisierung, Dekarbonisierung und Demografie.
Dabei ist der demografische Wandel der am leichtesten vorhersehbare der drei Megatrends. Denn dass die Geburtenrate sinkt, die Lebenserwartung steigt und der Renteneintritt der Babyboomer die Sozialkassen ab Mitte dieses Jahrzehnts vor enorme Finanzprobleme stellen wird, ist in unzähligen Studien und Statistiken eindrucksvoll beschrieben worden.
Wenn Historiker eines Tages die Bilanz der Ära Merkel ziehen, werden sie vielleicht fragen, warum die Große Koalition seit 2013 so gut wie nichts getan hat, um die Zeitbombe in den Sozialversicherungssystemen zu entschärfen.
In der Rentenpolitik haben Union und SPD den vernünftigen Ansatz, die Lasten der Alterung durch eine Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre gerechter über die Generationen zu verteilen, durch die Rente mit 63 stattdessen wieder konterkariert.
Statt die Alterssicherung demografiefest zu machen, betrieb Schwarz-Rot Klientelpolitik zulasten der Jungen – durch kostspielige Leistungsausweitungen wie die Mütterrente oder die Festschreibung des Rentenniveaus.
Gleiches gilt im Gesundheitswesen oder in der Pflege. Obwohl allein die alternde Gesellschaft höhere Gesundheitskosten mit sich bringt, hat vor allem Minister Spahn bei den Ausgaben noch draufgesattelt, als gäbe es kein Morgen.
Dass Union und SPD auf den letzten Metern der Wahlperiode noch ein Gesetz verabschiedet haben, das die Personalkosten in der Pflege nach oben treibt und gleichzeitig die Eigenanteile der Pflegebedürftigen deckelt, zeigt, wie zukunftsvergessen die jetzt abgewählte Große Koalition regiert hat.
SPD, Grüne und FDP müssen jetzt den Hebel umlegen
Die Folge ist ein schleichender Systemwechsel in den Sozialkassen. Die Umlagefinanzierung, die mit dafür sorgt, dass ein Sozialstaat nur so viel ausgibt, wie er sich auch leisten kann, wird zunehmend durch eine Quersubventionierung aus der Steuerkasse abgelöst. Der Zuschuss für die Rentenkasse beläuft sich mittlerweile auf mehr als 100 Milliarden Euro, für die Krankenkassen werden im Bundeshaushalt immer neue Milliardensummen reserviert, und auch die Pflegeversicherung hängt jetzt erstmals am Steuertropf.
SPD, Grüne und FDP haben jetzt die Chance, den Hebel umzulegen. Ein Ampelbündnis wird nur dann zu der viel beschworenen Zukunftskoalition, wenn es ihm gelingt, den demografischen Sprengsatz zu entschärfen. Denn die Frage der Generationengerechtigkeit, die das Bundesverfassungsgericht beim Klimaschutz eindeutig zugunsten der Jugend beantwortet hat, stellt sich auch in der sozialen Sicherung.
Diese zukunftsfest zu machen, ohne die Lasten einseitig zu verteilen, erfordert Mut. Aber die nächste Regierung darf nicht länger davor zurückschrecken, Politik gegen die größte Wählergruppe zu machen: die sogenannten „Best Ager“ (55 plus) und die Senioren. Wahrscheinlich standen die Chancen dabei lange nicht so gut wie jetzt.
Denn Grüne und FDP erzielten gerade bei Erst- und Jungwählern beachtliche Stimmenanteile. Daran sollten sie denken, wenn SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz in „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“-Manier weiter so tut, als gäbe es die demografische Herausforderung nicht.
Die FDP wird in Koalitionsverhandlungen schon aus eigenem Antrieb auf Pump finanzierte Leistungsausweitungen zu verhindern suchen – schließlich hat sie ihren Wählern versprochen, dass es mit ihr keine Steuererhöhungen geben wird. Aber auch SPD und Grüne sollten sich genau überlegen, wofür die eng gewordenen Spielräume im Bundeshaushalt genutzt werden sollen.
Jeder Euro für die Renten-, Kranken- oder Pflegekasse fehlt für Investitionen in die Digitalisierung oder die Dekarbonisierung. Ein einfaches Weiter-so, etwa durch eine Verlängerung des garantierten Rentenniveaus auch über 2025 hinaus, darf es jedenfalls nicht geben.



Gerade weil ein Ampelbündnis ideologische Gräben überwinden muss, um überhaupt zusammenzufinden, könnten bei der Bewältigung des demografischen Wandels Lösungen gefunden werden, die sonst an den Hardlinern der jeweiligen Partei gescheitert wären. Das gilt etwa für den Aufbau einer stärkeren Kapitaldeckung in der Rentenversicherung oder mehr Wahlfreiheit bei Gesundheitsleistungen.
Und statt – wie in der Großen Koalition – jedem Partner einfach seine Ausgabenwünsche zu erfüllen, könnte ja ein Ampelbündnis zur Abwechslung mal eine gemeinsame Streichliste präsentieren. Fest steht nur, dass SPD, Grüne und FDP handeln müssen. Sonst fliegt ihnen das Sozialsystem um die Ohren – und das Zukunftsbündnis hat keine Zukunft über 2025 hinaus.
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