
Hamburg-Wahl: Erfolgsfaktor Geräuschlosigkeit / Sicherheitspolitik: Merz muss umdenken.
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
was in „Herr der Ringe“ das Auenland ist, das ist für die deutsche Sozialdemokratie die Freie und Hansestadt Hamburg: Ein liebenswertes Fleckchen Erde, in dem die Bierkrüge stets gut gefüllt sind, es aus jedem Kochtopf lecker duftet und jeder Dritte SPD wählt. Kurz: Dort ist es für die Genossen noch so schön, wie es früher überall war.
Tatsächlich mag man beim Blick auf die Umfragen kaum glauben, dass Hamburg Teil derselben Bundesrepublik sein soll, in der am vergangenen Sonntag die SPD zur 16-Prozent-Partei dezimiert wurde. Wenn an diesem Sonntag in Hamburg eine neue Bürgerschaft (so heißt hier der Landtag) gewählt wird, darf die SPD laut jüngster ZDF-Umfrage auf 33 Prozent hoffen, mehr als doppelt so viel wie im Bundesschnitt. Das wären immer noch sechs Prozentpunkte weniger als bei der vergangenen Bürgerschaftswahl. Aber zusammen mit den Grünen (17 Prozent) dürfte es für eine Fortsetzung der rot-grünen Koalition unter Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) reichen.
Wie im Bund wird die AfD wahrscheinlich auch in Hamburg ihr Ergebnis verbessern – auf immer noch überschaubare neun Prozent. Die Linke legt deutlich auf zwölf Prozent zu. Die CDU kommt laut ZDF-Umfrage auf 18 Prozent und darf das schon als Erfolg verbuchen. Vor vier Jahren waren es nur 11,2 Prozent.
Nun zum eigentlichen Rätsel: Eine Stadt, die seit 1000 Jahren ihren Wohlstand durch Handel mehrt, und in der ein blauer Blazer zu ziegelroter Hose als normaler Habit für einen Sonntagspaziergang gilt, sollte eigentlich idealer Nährboden für marktliberale Positionen sein. Und doch rangiert die hanseatische FDP in den Umfragen, die sie überhaupt noch ausweisen, bei mageren drei Prozent – gleichauf mit Volt und BSW.
Ich lebe fast auf den Tag genau seit einem Vierteljahrhundert in Hamburg und erkläre mir den Erfolg von Peter Tschentscher in einem Wort so: Geräuschlosigkeit. Er bedient meisterlich das Grundbedürfnis der Hamburgerinnen und Hamburger, nicht gestört zu werden. Probleme wie etwa der wirtschaftliche Niedergang des Hafens existieren nicht, solange man sie nicht zur Kenntnis nimmt. Man lebt schließlich nach eigener Überzeugung schon in der schönsten Stadt der Welt, da kann jede Form der Disruption nur von Nachteil sein. Eine Einstellung, wie sie auch die Hobbits im Auenland an den Tag legen.
Oder wie es Hamburgs Grünen-Chefin und Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank im Handelsblatt-Interview formuliert:

Fehlt es Merz an Besonnenheit?
Tschentschers Vorgänger in Hamburg hieß Olaf Scholz, der hier mit der SPD sogar einmal eine absolute Mehrheit geholt hat. In seinem heutigen Editorial nennt Handelsblatt-Chefredakteur Sebastian Matthes fünf Unarten von Scholz, die sein wahrscheinlicher Nachfolger Friedrich Merz tunlich vermeiden sollte – Stoffeligkeit ist hier der Schlüsselbegriff. Aber es gibt auch eine Eigenschaft des scheidenden Kanzlers, an der sich der zukünftige ein Beispiel nehmen sollte, nämlich Besonnenheit. Matthes über Merz:
Kaltstart für den kommenden Kanzler
Merz steht vor der vielleicht bedeutendsten Aufgabe, die je ein deutscher Kanzler seit Konrad Adenauer hatte: Ausgerechnet Merz, der überzeugte Transatlantiker ohne Regierungserfahrung, muss die Sicherheit unseres Landes unabhängig von den USA neu organisieren. Dazu wird er um Verbündete werben müssen:

Geduldiges Werben und Verhandeln sind nun gefragt, und keine unüberlegten öffentlichen Festlegungen. Kann Brausekopf Merz das? Die kommenden Wochen werden zeigen, ob der designierte Krisenkanzler Merz noch vor der Vereidigung in seine erste Kanzlerkrise rutscht.
Europa verteidigen ohne die USA – so geht's
Aber ist es überhaupt realistisch, dass die europäischen NATO-Staaten ohne die USA abwehr- und somit abschreckungsfähig gegenüber Russland werden? Die Analyse unseres Verteidigungspolitik-Reporters Frank Specht fällt differenziert aus: Auf dem Papier sind die europäischen Nato-Armeen der russischen in fast jeder Kategorie zahlenmäßig überlegen. Sie verfügten beispielsweise über 2073 Kampfjets und damit über fast doppelt so viele wie Russland.
Aber es mangelt im Westen an Einsatzbereitschaft, auch weil bestimmte militärische Aufgaben bislang komplett an die USA delegiert werden. So habe Europa ohne die Nato und die Amerikaner gar nicht die nötigen Kommandostrukturen, um große Verbände führen zu können, sagt Expertin Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Und wenn die USA pleite sind?
Im Moment fühlt sich Deutschlands Lage ziemlich ungemütlich an, so allein gelassen von den USA, die uns obendrein auch noch wirtschaftlich abhängen. Aber ist das womöglich nur eine Momentaufnahme, und die wahren Kräfteverhältnisse sind ganz andere? Im Handelsblatt-Interview sagt Ray Dalio, der Gründer des weltgrößten Hedgefonds Bridgewater, einen Satz, der hängenbleibt:

Die Zahlen klingen in der Tat dramatisch: Der Schuldenstand der USA liegt bei über 120 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das Haushaltsdefizit könnte demnächst 7,5 Prozent erreichen, wenn der Kongress die Steuersenkungen aus Trumps erster Amtszeit verlängert. Die zehnjährige US-Staatsanleihe rentiert mit 4,3 Prozent.
Und doch hat bislang noch jeder Spekulant verloren, der auf eine Schuldenkrise der USA gewettet hat. Bislang gab es immer genug Investoren, die den USA Geld geliehen haben. Aber das ist keine Garantie, dass es auch in Zukunft so sein wird. Dalio weiß, nach welchem Frühindikator es Ausschau zu halten gilt:





Mit diesem Morning Briefing übergebe ich den Weckdienst wieder für einige Wochen an meine Kollegin Teresa Stiens. Ich werde in der Zeit in ein Land reisen, das legendär ist für seine enorme Staatsverschuldung, und mit dem Deutschland 2023 seine Position in der Rangliste der größten Volkswirtschaften getauscht hat. Aufgrund der Schwäche der lokalen Währung soll es dort für europäische Reisende derzeit erfreulich günstig zugehen, behauptet unser Korrespondent vor Ort. Wenn es nicht stimmt, lasse ich mich von ihm zum Essen einladen.
Ich wünsche Ihnen einen heiteren Frühlingsauftakt.
Herzliche Grüße,
Ihr
Christian Rickens





