Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
kein Flugzeug, sondern ein „Stehzeug“ hat der amerikanische Boeing-Konzern in seinem Portfolio: Das Management setzt den Bau der Krisenjets 737 Max von Januar an vorübergehend aus, wie sich gestern Nacht entschied. Man ist höchst unsicher über eine Wiederzulassung, nachdem der Flugzeugtyp seit März mit Startverboten belegt ist. Innerhalb weniger Monate waren zuvor bei zwei Abstürzen mit 737 Max insgesamt 346 Menschen gestorben. Der angeschlagene Boeing-Chef Dennis Muilenburg muss nun das Kunststück fertigbringen, trotz Platzmangels rund 400 Jets zwischenzulagern. Das 737-Max-Parkgut ist weder für „Make America Great Again“ noch für die Außenhandelsbilanz der USA ein Stimmungsaufheller.
Klimaschutz finden die meisten ganz wundervoll, zahlen sollen dafür aber am besten die anderen. Und so treibt die späte Einsicht der Bundesregierung, 25 Euro pro Tonne Kohlendioxid seien doch handfester als zehn Euro, das Mühlrad der Interessenvertreter an. Viele Mittelständler würden gegenüber ihren internationalen Wettbewerbern so ins Hintertreffen geraten, dass ihre Existenz ernsthaft bedroht sei, wettert BDI-Mann Holger Lösch.
Die avisierte Senkung der EEG-Umlage helfe auch nicht weiter, assistiert DIHK-Präsident Eric Schweitzer im Handelsblatt. Betroffen seien Logistikfirmen, die Gas oder Diesel brauchen, sowie Industriebetriebe mit hohem Energiebedarf. Die industrielle Logik der Stunde handelt im Übrigen von jenem „sozialen Ausgleich“, den ökokosten-belastete Pendler und Bahnreisende auch schon genießen können.

In Frankreich fahren weiter viele Züge nicht, heute ist die dritte landesweite Großdemonstration angesagt. Das Land debattiert seit zwölf Tagen mit ungebrochenem Generalstreik über Emmanuel Macrons Rentenreform. Seine Bewegung „La République En Marche!“ verteilt im Land lauter Zettelchen mit vielen Häkchen, für seine PR ist alles geklärt: „Für eine einfachere, gerechtere Rente für alle“, steht da. Doch das Misstrauen gegenüber dem agilen Staatspräsidenten bleibt.
Und dass in einer solchen Lage mittels tagelanger Presse-Enthüllungen dann auch noch auffliegt, dass der für die Rentenreform zuständige Hochkommissar Jean-Paul Delevoye einfach mehrere Nebentätigkeiten – anders als gesetzlich verlangt – verschwiegen hat, macht es für Macron nicht leichter. Delevoye, ein 72-jähriger Fahrensmann, gab gestern auf, doch der Anti-Renten-Protest tritt nicht einfach zurück. In dieser Sache wird man vor Weihnachten vermutlich einen Frieden finden, der keiner ist.
Gerade hatten die Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag der Nato die inneren Spannungen notdürftig kaschieren können, da ledert Recep Tayyip Erdogan so richtig los. Der türkische Staatspräsident mit dem Sultan-Gehabe droht den USA und der Nato mit der Schließung der Luftwaffenbasis Incirlik und des Radarstützpunkts Kürecik.
Der Rundumschlag eines alten Nato-Mitgliedsstaats kommt unmittelbar nach zwei Ereignissen: der Resolution des US-Senats zum Genozid an den Armeniern durch Türken im Jahr 1915 sowie die Pro-Stimmung eines US-Senatsausschusses zu Sanktionen wegen der türkischen Offensive in Nordsyrien. Das Ballyhoo erinnert an Erich Fried und dessen Erzählung von den Steinen. Denen habe jemand gesagt: „Seid menschlich“, woraufhin als Antwort kam: „Wir sind noch nicht hart genug.“
Im Kanzleramt beredete der Fachkräftegipfel gestern straffere Visa-Verfahren – und draußen wird langsam klar, dass das ab März 2020 geltende „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ nur Globuli der Politik sind. „Wir müssen prüfen, ob die rechtlichen Voraussetzungen nicht zu hoch sind, etwa was die Einreise zur Ausbildungsplatzsuche angeht“, sagt uns die Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Petra Bendel.
Einen Ausbildungsplatz darf nur suchen, wer eine deutsche Auslandsschule absolviert hat oder eine Hochschulzugangsberechtigung vorweist. Herbert Brücker, Migrationsexperte beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), wiederum moniert, dass man seinen Berufsabschluss vor der Einreise anerkennen lassen muss, was nur in 4000 Fällen pro Jahr gelingt. Entscheidendes Kriterium sollte aus seiner Sicht ein Arbeitsvertrag für eine qualifizierte Tätigkeit sein. Aber das Einfache ist für Berlin in dieser Frage weiter das Schwere.
Ganz in Solidarität üben sich in Sachsen-Anhalt Ministerpräsident Reiner Haseloff und die CDU mit einem angreifbaren und angegriffenen Parteimitglied. Es geht um die rechtsradikale Historie von Robert Möritz, Kreisvorstand der Christdemokraten in Anhalt-Bitterfeld. Der Mann habe glaubhaft darstellen können, dass er nichts mehr mit Rechtsaußen zu tun habe, heißt es in der Partei.
Dabei war Möritz 2011 auf einer Neonazi-Demonstration in Halle mitgelaufen, er trägt ein politisches Tattoo, hat wiederholt zu biografischen Details augenscheinlich gelogen und trat erst vor wenigen Tagen aus dem dubiosen Verein „Uniter“ aus, den die Sicherheitsbehörden nach „Hinweisen auf extremistische Bestrebungen“ auseinandernahmen. Die Möritz-Affäre ist Sprengstoff für die Koalition mit SPD und Grünen, die per Pressemitteilung fragen: „Wie viele Hakenkreuze haben Platz in der CDU?“
Zum Gewinner des Tages könnte das börsennotierte Online-Anzeigenportal Scout24 werden. Womöglich wird heute der Verkauf des Gebrauchtwagengeschäfts spruchreif werden – für deutlich mehr als 2,5 Milliarden Euro. So viel Geld will der US-Finanzinvestor Hellman & Friedman ausgeben, der Scout24 einst auch mit an die Börse gebracht hat. Rivalen beim Bietergefecht sind offenbar die Private-Equity-Größen Permira und Apax Partners sowie der australische Online-Dienstleister Carsales. Vor allem Hedgefonds im Aktionärskreis hatten auf das Prinzip „Kasse machen“ bei Scout24 gedrungen. Das verbleibende Portal ImmobilienScout24 kollidiert mit dem Ehrgeiz des Axel-Springer-Konzerns, das eigene Immonet weiter zu päppeln.

Und dann ist da noch der mit #Metoo-Makel lebende Filmproduzent Harvey Weinstein, dem wegen Vergewaltigungsvorwürfen der Prozess gemacht wird. In seiner Branche ist er längst zum Paria geworden – und doch hat er offenbar ein gleichsam engelsgleiches Bild von sich selbst. In einem Interview gab der 67-Jährige zum Besten, er fühle sich wie der große Vergessene: „Ich habe mehr Filme mit Regisseurinnen und über Frauen gemacht als jeder andere Produzent, und zwar vor 30 Jahren, nicht heute, wo es en vogue ist. Ich habe das zuerst gemacht, ich habe Pionierarbeit geleistet.“ Weinstein führt etwa Gwyneth Paltrow („View from the Top“) an.
Die wohl heftigste Kritik an dieser hollywoodesken Selbstbeweihräucherung kommt von 23 Frauen rund um Rosanna Arquette und Rose McGowan. Weinstein werde mit Sicherheit nicht vergessen werden, erklären sie in einem Statement. Er werde vielmehr als Sexualstraftäter und reueloser Missbrauchender in Erinnerung bleiben, „der sich alles nahm und nichts verdient“.
Ich wünsche Ihnen einen friedlichen und erkenntnisreichen Tag.
Es grüßt Sie herzlich
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
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