Morning Briefing Braucht Deutschland einen Steuerpranger?
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
zu den Gemeinsamkeiten von Rot-Grün gehört allem Anschein nach die Förderung von Denunziantentum. Wir erinnern uns, wie Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, ein Talent der SPD, mitten in der übelsten Corona-Pandemie die Bürger aufforderte, doch bitte dem Staat sogleich zu melden, wenn ein Nachbar seuchentechnisch über die Stränge schlagen sollte. Ganz im binären Zeitgeist hat im früheren „Musterländle“ Baden-Württemberg der grüne Finanzminister Danyal Bayaz nun die bundesweit erste Steuer-Meldeplattform gestartet – für alle Blockwarte, die schon immer den Verdacht hatten, jemand betrüge ganz raffiniert den Fiskus, wie sonst könne er sich wohl den neuen Mercedes leisten.
Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock kann sich die Bayaz-Novität bundesweit vorstellen, das wäre eigentlich „auch Aufgabe des Bundesfinanzministers gewesen“. Nun warten wir auf ein klärendes Wort von Olaf Scholz. Vielleicht so: Nicht alles, was neu ist, ist auch gut, und künftig nehmen wir lieber mit mehr Prüfern die Spur großer Steuerdelinquenten auf. Kauft von mir aus auch ein paar Steuer-CDs – aber digitalisiert das Misstrauen nicht.
Wann ist ein „Angebot“ ein Angebot? Die Frage spielt im irgendwie unheimlichen Tarifkampf der Eisenbahner eine Schlüsselrolle. Bisher nämlich hatte die Gewerkschaft GDL die Ideen der Deutschen Bahn – fantasiereich wie Lukas der Lokomotivführer – als wirklich nicht angebotsfähig abgelehnt. Kurz vor Streikbeginn im Personenverkehr um zwei Uhr in der zu Ende gegangenen Nacht sicherte der Staatskonzern, wie von der GDL gewünscht, eine Coronaprämie von bis zu 600 Euro zu sowie 3,2 Prozent mehr Gehalt auf 36 Monate, wobei die GDL unter Regie des sächsischen Arbeiterführers Claus Weselsky von 28 Monaten ausging.
Irgendjemand in der Politik muss dem Bahn-Management geflüstert haben, dass ein großflächiger Streik zum Ende der Ferien und mitten im Bundestagswahlkampf so attraktiv ist wie das übliche halbwarme Rührei im Bordbistro. Der September, so die Stoßrichtung, solle nicht zu Weselskys „Germinal“ werden.

Gary Gensler, Chef der US-Börsenaufsicht SEC, erinnert an die Geschichte. Sie habe gezeigt, dass kein relevanter Geld-Akteur lange Zeit außerhalb des regulierten Kapitalmarkts bleiben könne, denn Finanzen handelten letztlich von Vertrauen. Diesen historischen Exkurs beschloss Gensler mit einer Warnung an die Adresse all der Kryptowährungs-Plattformen, deren Volumen sich global auf zwei Billionen Dollar beläuft. Sie riskierten ihr Überleben, so der SEC-Boss in der „Financial Times“, wenn sie seinem Ruf nicht folgen würden, künftig im Rahmen der Regulierer zu wirken.
In den USA sind Krypto-Plattformen ein großes Geschäft. Im zweiten Quartal kam allein Coinbase aus New York auf 1,6 Milliarden Dollar Gewinn. In Deutschland gehört zum Krypto-Hype, dass es plötzlich viermal so viele Verdachtsfälle auf Geldwäsche rund um Bitcoin & Co gibt. 2020 existierten hier 2050 Verdachtsmeldungen, nach 570 im Jahr 2018. FDP-Finanzexperte Frank Schäffler: „Die Bundesregierung muss den Verfolgungsdruck erhöhen.“
„Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen“ – an den Song aus „My Fair Lady“ fühlte sich erinnert, wer in den letzten Monaten die Prospekte und Broschüren der Geldanlagehäuser wälzte. Überall Nachhaltigkeit und „ESG“, also Investments nach den Kriterien Environmental, Social und Governance (gute Unternehmensführung). Doch bei näherem Hinsehen wirken manche Fondshäuser nicht waldgrün, sondern eher blassgrün. Unsere Anfragen bei den vier größten Anbietern im Land weisen auf Schwächen hin: Bei der Deutsche-Bank-Tochter DWS, dem Sparkassen-Betrieb Deka, dem Volksbanken-Ableger Union Investment und Allianz Global Investors werden gerade mal acht bis maximal 20 Prozent des Fondsvermögens gemäß ESG-Normen investiert.
Nachdem die einstige DWS-Nachhaltigkeitschefin ihrem einstigen Arbeitgeber sogenanntes „Greenwashing“ vorwarf, muss sich das Fondshaus in den USA und in Deutschland Untersuchungen der Aufsicht gefallen lassen. Henry Schäfer, ESG-Experte und Finanzprofessor in Stuttgart: „Ein Teil von dem, was als grün gilt, ist vielleicht eine grüne Illusion.“
Wo Tugend ist, ist auch Sünde. Während ethische Geldanlagen so sehr en vogue sind, dass es offenbar Materialprobleme gibt, erschaufeln sich „Sin-Investments“ (Sünden-Investments) mit den Igittigitt-Produkten der modernen Welt in aller Stille stattliche Renditen. Hier verdient man mit Waffen, Tabak, Alkohol, Spielcasinos, Sex, wer will über ETFs. Ein spezieller Index, Vice Fund (Vicex), hat sich all die Jahre im Vergleich recht gut geschlagen. Besonders mit Waffen ließ sich offenbar viel Geld verdienen. Wie formulierte François de La Rochefoucauld so schön: „Wenn die Laster uns verlassen, schmeicheln wir uns mit dem Wahn, wir hätten sie verlassen.“
Der irakische Finanzminister Ali Allawi ist in der Ölbranche eine größere Nummer. Kurz vor der nächsten Sitzung der Opec, des Kartells der Erdölförderer, drängt Allawi, sich endlich aus der Abhängigkeit von fossiler Energie zu befreien und stärker auf erneuerbare Energien zu setzen. In einem Beitrag für den „Guardian“ klingt der Mann aus Bagdad wie eine Mischung aus Greta Thunberg, Bill Gates und Annalena Baerbock. Die Opec, schreibt er, solle einen Kurs der ökonomischen Erneuerung fahren, mit vernünftiger ökologischer Politik und Technologie, inklusive Solarenergie und eventuell Nuklearstrom.
Um die schlimmsten Folgen des Klimawandels zu bewältigen, brauche die Welt einen fundamentalen Wandel in der Art und Weise, wie sie Energie produziert und verbraucht. Es sei unbedingt notwendig, so Allawi, weniger Öl, Kohle und Gas zu verbrennen. Bertolt Brecht würde die überraschende Erkenntnis so loben: „Wer A sagt, muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.“
Wie bewältigen Banken und Fintechs die Coronakrise? Wie gelingt profitables Banking im „New Normal“? Und welche Folgen hat der Fall Wirecard für den Finanzplatz Deutschland? Darüber diskutieren vom kommenden Mittwoch an Vordenkerinnen und Vordenker der Branche und der Politik beim digitalen Banken-Gipfel des Handelsblatts. Mit dabei sind unter anderem Bundesfinanzminister Olaf Scholz, Banco-Santander-Chefaufseherin Ana Botin und N26-Chef Valentin Stalf. Wenn Sie dabei sein möchten, erhalten Sie mit dem Rabattcode D2101024MB runde 100 Euro Rabatt auf den Veranstaltungspreis. Weitere Informationen erhalten Sie hier.

Und dann ist da noch der britische Popstar Elton John, „Rocket Man“ der Musikbranche seit 50 Jahren. Die Pandemie hat der 74-Jährige produktiv für die Erstellung seines neuen Albums „The Lockdown Sessions“ genutzt. Es erscheint am 22. Oktober. Die Songs spielte Sir Elton mit Musikern wie Miley Cyrus, Stevie Nicks, Stevie Wonder und den Gorillaz ein. Während die Angestelltenwelt im Homeoffice neben Frau und Kind saß und das Medium Videokonferenz austestete, nahm der Hitparaden-Stürmer Titel via Zoom auf oder musizierte im Studio unter Einhaltung strengster Hygienenormen, vom Mitmusikant getrennt durch Plexiglasscheiben. Elton John fühlte sich nach eigenem Bekunden wie zu Beginn seiner Karriere Ende der 1960er-Jahre: „Der Kreis schließt sich: Ich war wieder Studiomusiker. Und es war immer noch ein Knaller.“
Ich wünsche Ihnen kreative Stunden, also – wenn Sie so wollen – einen richtigen „Knallertag“.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
Hier können Sie das Morning Briefing abonnieren:

Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.