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Morning BriefingDie große Kungelei von Erfurt

Hans-Jürgen Jakobs 06.02.2020 - 06:00 Uhr

Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,


es gibt einen Satz von Christian Lindner, den möchte man in diesen Tagen am liebsten schön eingerahmt in jedes FDP-Geschäftszimmer hängen: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Der Parteichef hatte mit diesen Worten im November 2017 die Absage an eine „Jamaika“-Koalition im Bund begründet. Gestern, nachdem sich Parteifreund Thomas Kemmerich im Thüringer Landtag mit den Stimmen der Rechtsaußenpartei AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ, sagte er das Schmucksätzchen nicht. Lindner hat augenscheinlich mitgekungelt. Und irgendwie schien ja auch die Freude zu überwiegen, nach 70 Jahren mal wieder einen Landesvater stellen zu können. Demonstranten mussten die FDP gestern Abend daran erinnern, dass sie es nur ganz knapp ins Erfurter Parlament geschafft und Die Linke unter Alt-Ministerpräsident Bodo Ramelow die meisten Stimmen gewonnen hatte. Den Lindner-Satz sagte am Ende seine Stellvertreterin Marie-Agnes Strack-Zimmermann: „Nicht regieren ist besser, als von Björn Höcke gewählt zu werden.“

Foto: dpa

Für die AfD bietet das Thüringer Schauspiel eine willkommene Exerzier-Bühne. Man gibt sich gutbürgerlich. Die Partei hatte im Oktober bei der Wahl zugelegt und siegt nun zum zweiten Mal – als Königsmacherin, als Kraft, ohne die in Ostdeutschland offenbar nichts mehr läuft. Und so kam es zur deutschen Premiere, dass sich ein Ministerpräsident mit Stimmen von Rechtsextremen wählen lässt. Von einer Partei, die in Thüringen unter Björn Höcke einen knallharten nationalistischen Kurs fährt und dem regionalen Verfassungsschutz als „Prüffall“ gilt. Das Versagen der CDU in der Causa Kemmerich, die eine Causa Höcke ist, legte niemand so eindrucksvoll bloß wie CSU-Chef Markus Söder. Die CDU erleide durch dieses „Abenteuer“ ein hohes Maß an Glaubwürdigkeitsverlust, kommentierte er, das sei „kein guter Tag für Deutschland und erst recht keiner für die Demokratie in unserem Land“ gewesen. Man denkt an Thüringen, man denkt an Weimar.

In das Chaos der CDU tritt jemand, der sich als ordnende Kraft begreift und so gesehen werden will: Friedrich Merz, der Fraktionschef aus alten Tagen des Prä-Merkelismus und späterer Parteichef-Aspirant mit Flop-Erlebnis. Er kündigte just im Moment des Thüringen-Fiaskos an, Ende März seinen Posten im Aufsichtsrat von Blackrock Deutschland aufzugeben. Nach vier Jahren beim weltgrößten Vermögensverwalter – dem er intern eine Namensänderung empfohlen haben soll – wolle er „sich mehr politisch einbringen und die CDU unterstützen“. Voller Emphase über den gefühlten Deutschland-Auftrag saß Merz gestern Abend in der ZDF-Talkshow „Lanz“, beklagte dort das „Rumeiern“ seiner Partei in Thüringen und fragte sich laut, wie Wähler künftig bei Union und SPD zu halten seien. Gewählt wird er am Ende aber nur, wenn er Antworten statt Fragen liefert.

Foto: AFP

Ein Verriss gehört zur hohen Schule der Feuilletonisten, weswegen der „Spiegel“ einmal den Buchkritiker Marcel Reich-Ranicki als „Verreißer“ von Büchern auf dem Cover präsentierte. Als „Verreißerin“ gab sich am Dienstag auch die demokratische Politikerin Nancy Pelosi, Sprecherin des US-Repräsentantenhauses. Fast genüsslich zerlegte sie das Manuskript einer zuvor gehaltenen Jubelrede des US-Präsidenten Donald Trump, der Text habe nicht eine Seite Wahrheit enthalten. Auch der deutsche Industrieverbandschef Dieter Kempf zeigt sich kritisch: Anders als von Trump behauptet, sei „die Wirtschaftslage in den USA schon deutlich besser gewesen als derzeit“. Das Impeachment-Verfahren im Senat wiederum überstand Trump wie erwartet gut. Als einziger seiner Republikaner stimmte Mitt Romney für eine Amtsenthebung wegen Machtmissbrauchs. Das Vorgehen des Regierungschefs in der Ukraine-Affäre sei „die vielleicht missbräuchlichste und zerstörerischste Verletzung des Amtseides, die ich mir vorstellen kann.“

Die Zeit der DDR-Wahlergebnisse ist bei Siemens passé. Bekamen früher Vorstand und Aufsichtsrat rund 99 oder 98 Prozent Zustimmung der Aktionäre auf der Hauptversammlung, so mussten sie diesmal mit weniger zufrieden sein. Chefaufseher Jim Hagemann Snabe verzeichnete lediglich gut 93 Prozent Zustimmung, CEO Joe Kaeser lag mit 94,29 Prozent nur leicht besser. Der Manager mit chronischem PR-Spieltrieb stand im Mittelpunkt einer Neun-Stunden-Diskussion, die sich um Klimasünden wie das Kohleprojekt in Australien oder um die Zerlegung des Konzerns drehte. „Der Börsengang der Energiesparte steht unter keinen guten Vorzeichen“, schlussfolgert unsere Titelgeschichte.

Die Cum-Ex-Steueraffäre droht für einige Finanzinstitute zum späten Blutbad zu werden. In einem Strafprozess um die dubiosen Aktiengeschäfte, für die der Staat ohne Grund jahrelang Steuern erstattet hat, stellte das Landgericht Bonn klar, dass sich die betroffenen Finanzdienstleister nicht auf Verjährung berufen können. Nun müssen Gesellschaften wie Warburg, Société Générale, BNY Mellon und Hansainvest damit rechnen, dass Vermögen und Gewinne aus den Betrugstransaktionen eingezogen werden. Insgesamt steht eine Summe von immerhin 400 Millionen Euro im Feuer. So hoch war der Steuerausfall in der Kriminalsache „Cum Ex“. Von Theodor Fontane lernen wir: „Wo viel Geld ist, geht immer ein Gespenst um.“

Die Bundesbank in Frankfurt verhält sich in diesen Tagen wie eine Großbank, die strategisch von Zeit zu Zeit alles auf den Prüfstand stellt. Es könne am Ende „zu einer substanziellen Veränderung der Institution kommen“, sagt uns ein Insider – wegen der Digitalisierung, die bestimmte Arbeiten überflüssig mache, und vor allem wegen der Demografie. Das Durchschnittsalter der gut 10.000 Mitarbeiter liegt bei immerhin 47 Jahren, in den nächsten Jahren sind also etliche von ihnen reif für die Rente. Hunderte junge Kräfte müssen gesucht werden. Dass sich die Notenbank als fleißige Datensammlerin betätigt hat, soll nun von Vorteil sein: Im Reich des Präsidenten Jens Weidmann plant man die Lieferung von Daten an Interessierte, auch bei Firmendaten (etwa zu Krediten) fühlt man sich stark.

Foto: dpa

Und dann ist da noch Kurienerzbischof Georg Gänswein, dem deutschen Publikum als unser Mann im Vatikan bekannt, damals, als „wir Papst waren“ – in den Zeiten von Benedikt XVI. Nun hat dessen Nachfolger Papst Franziskus den Präfekten des Päpstlichen Hauses auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Gänswein darf aber weiter als Privatsekretär die Audienzen des emeritierten Benedikt koordinieren. PR-Pannen rund um die Veröffentlichung eines Buches des erzkonservativen Kardinals Robert Sarah dürften der Grund für die Entmachtung Gänsweins sein. Benedikt hatte darin in einem Aufsatz das Zölibat lebhaft verteidigt, das Franziskus auflockern möchte; zunächst war der greise Deutsche – mit bürgerlichem Namen Joseph Aloisius Ratzinger – sogar als Co-Autor der Streitschrift genannt worden. Die Affäre hat das Verhältnis des amtierenden zum emeritierten Papst offenbar so ramponiert, dass Franziskus den umtriebigen Präfekten nicht mehr sehen mag.

Verwandte Themen CDU Thüringen Christian Lindner Donald Trump Deutschland Björn Höcke

Ich wünsche Ihnen einen göttlich schönen Tag. Die nächsten zwei Wochen werde ich im Lese- und Leisure-Urlaub verbringen, Chefredakteur Sven Afhüppe übernimmt den Weckdienst komplett. Es grüßt Sie herzlich wie immer, bis zum nächsten Mal, Ihr

Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor

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